HEAVEN SHALL BURN - Of Truth And Sacrifice
Auch im Soundcheck: Soundcheck 03/2020
Mehr über Heaven Shall Burn
- Genre:
- Death Metal
- ∅-Note:
- 9.50
- Label:
- Century Media (Sony)
- Release:
- 20.03.2020
- March Of Retribution
- Thoughts And Prayers
- Eradicate
- Protector
- Uebermacht
- My Heart And The Ocean
- Expatriate
- What War Means
- Terminate The Unconcern
- The Ashes Of My Enemies
- Children Of A Lesser God
- La Resistance
- The Sorrows Of Victory
- Stateless
- Tirpitz
- Truther
- Critical Mass
- Eagles Among Vultures
- Weakness Leaving My Heart
Darf's noch etwas mehr sein?
Eine Nummer kleiner war für HEAVEN SHALL BURN offenbar keine Option: Das Rückkehralbum der Thüringer Brachialmetaller ist eine ausufernde Doppelplatte geworden, 19 Songs, die von knackigen Abrissgranaten bis hin zu fast zehnminütigen Progressive-Death-Epen wirklich alles beinhaltet, was das Melodic-Death-Fanherz begehrt. Und noch mehr: Zahlreiche experimentelle Ausflüge in scheinbar gänzlich artfremde Genres lassen die fünf Veteranen nach fast 25 Jahren Bandgeschichte frischer, jünger, kreativer erscheinen als viele ihrer musikalischen Artgenossen. Ein mächtiges, monumentales Statement in der schnelllebigen, EP-Fastfood geprägten Musiklandschaft. Doch das großzügige Format von "Of Truth And Sacrifice" ist weder Selbstzweck noch großspuriges Geklotze: In ihrer zweijährigen Pause hat die Truppe jede Menge Zeit und Kreativität investiert, um ihre bisherigen musikalischen Ansätze neu aufzugreifen, mutig weiterzuentwickeln und ohne Berührungsängste nach einem Vierteljahrhundert nochmal neue Wege zu beschreiten. Das Ergebnis spricht Bände!
Der Einstieg fällt noch verhältnismäßig unspektakulär aus: Ein zurückhaltendes Gitarrenmotiv wird beim Intro 'March Of Retribution' aufgebaut, mit der unverkennbaren, martialischen Instrumentalfraktion unterfüttert und übergeleitet in das erste wuchtige Statement 'Thoughts And Prayers'. Hier bleiben keine Fragen offen und kein Auge trocken: Mit derselben unbändigen Wut und Energie, die HEAVEN SHALL BURN von je her live und auf Platte auszeichnen, werden der US-Waffenlobby und ihren politischen Vertretern die Leviten gelesen. Das Gitarrenthema des Intros greift dabei den introvertierteren Grundton des Vorgängeralbums "Wanderer" auf, und somit lässt sich schon ein erstes Fazit vorwegnehmen: Die Nachdenklichkeit von "Wanderer" ist geblieben, die zurückhaltenden Phasen wurden sogar noch ausgebaut, und trotzdem hat "Of Truth And Sacrifice" mehr Aggressivität im Gepäck als der letzte Output. Das beweisen mehrere ultrabrutale, grindige Metzeleinlagen wie das folgende 'Eradicate', mit einem entfesselten Marcus Bischoff, der wieder an Biss und stimmlicher Schärfe zugelegt hat. Die dezent "schwedischere" Ausrichtung, die sich über die letzten Jahre im HEAVEN SHALL BURN-Sound etabliert hat, wird nicht noch weiter gesteigert, aber erneut meisterhaft in einer absoluten Trademark-Nummer wie 'Protector' oder einem persönlicheren, tragischeren Statement wie 'My Heart And The Ocean' zelebriert.
Bis hierhin wäre "Of Truth And Sacrifice" einfach nur ein konsequenter "Wanderer"-Nachfolger, betankt mit einer neuen Ladung Frische, Zorn und Spielfreude. Doch wirklich herausragend ist Album Nr. 9 in seinen mitunter schockierenden Überraschungsmomenten. So haut uns die Band mit 'Uebermacht' als erste ungewohnte Kostprobe ein RAMMSTEIN-artiges Industrial-Monster vor den Latz. Okay, Elektro-Spielereien sind keine Neuerung im HEAVEN SHALL BURN-Universum, aber 2020 überraschen unsere Landsleute mit in dieser Form neuen Entschlossenheit und Unbekümmertheit. Noch heftiger wird es bei der Techno-/Trance-Hardcore-Verbindung 'La Resistance': Im ersten Moment eine echte Zumutung, erschließt sich das Teil in seiner Härte und seinem Disco-Groove aber mit jedem Durchgang, und spätestens beim THE PRODIGY-Gedächtnis-Interlude haben sie mich endgültig – wie geil ist bitte diese Verbindung aus Clubsounds und Death Metal?!? Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich Songs, die zunächst jeglicher Härte entblößt wurden und beinahe rührselig daherkommen. Der gänzlich zurückgenommene Albumausklang 'Weakness Leaving My Heart' hat schon vorab in Kombination mit 'Protector' für Aufsehen gesorgt, doch 'Expatriate', die Zusammenarbeit mit den Minsker Philharmonikern, setzt in Sachen Dramatik gleich mehrere Schippen drauf: Gefühlvoll baut das Orchester mit dezenten Streichern ein sehnsuchtsvolles Panorama auf, ehe Marcus Bischoffs zornige Spoken-Word-Einlage die ohnmächtige Perspektive eines ausgebürgerten Landesflüchtigen in den Mittelpunkt rückt. Der Song wechselt mehrfach zwischen deprimierter Hilflosigkeit und anklagender Wut, bis ein dramatisches, ergreifendes Finale anhebt, eine Anklage an alle Duckmäuser und Mitläufer eines unterdrückerischen Regimes. 'Expatriate' kann einen nur geplättet, betroffen, nachdenklich zurücklassen. Und noch einmal überraschen uns die Thüringer mit einer völlig anderen Gangart: einem phänomenal ausbalancierten Ausflug gen Epik- und Dark Metal namens 'The Sorrows Of Victory'. Unterstützt vom fantastischen Chris Harms (LORD OF THE LOST) komponieren Maik Weichert und Konsorten ein fast zehnminütiges, an Dramatik schwer überbietbares Epic-/Death-Epos. Und wenn bei 'Critical Mass' völlig unerwartet noch grooviger PANTERA-Thrash die Szenerie betritt, kann man sich eines anerkennenden Grinsens nicht erwehren: Hut ab, Herrschaften! Auf dieser Platte wird mannigfaltig musikalisches Genie bewiesen.
Verblüffend ist dabei vor allem die Tatsache, wie sich all diese untypischen Prägungen auf geradezu natürliche, symbiotische Weise mit der Brutalität des HEAVEN SHALL BURN-Sounds verbinden. Daher stellt "Of Truth And Sacrifice" nicht einfach nur eine zweckmäßig-experimentelle Spielwiese dar, sondern eröffnet der in die Jahre gekommenen Formation völlig unerwartet neue Perspektiven: Nach "Wanderer" stellte sich tatsächlich die Frage, in welche Richtung die Reise für das metallische Sozialkritik-Ensemble noch gehen könnte – heuer dürfte eher gerätselt werden, welche Türen für HEAVEN SHALL BURN in Zukunft noch so aufgehen, denn von einer Sackgasse kann nach einem solch fulminanten Befreiungsschlag, wie "Of Truth And Sacrifice" ihn markiert, keine Rede mehr sein. Von mir aus hätten es tatsächlich noch ein, zwei kreative Ausflüge mehr sein können.
Nur zwei Durchhänger finden sich in der großzügigen Trackliste: Die Power-Metal-Kollaboration (ja, wirklich!) 'Children Of A Lesser God' funktioniert zwar zunächst auch erstaunlich gut, erlaubt sich aber gegen Ende einige unspektakuläre Längen. Und neben deftigen Bestien wie 'What War Means' oder 'Truther' erweist sich 'Tirpitz' als ziemlich lahme HSB-B-Ware; ich muss auch zugeben, dass mich die bei den fünf Herrschaften ständig wiederkehrende WWII-Thematik mittlerweile etwas anödet. Trotzdem komme ich nicht umhin, bei "Of Truth And Sacrifice" von einem Meisterwerk, ja einem Meilenstein des Melodic Death Metals zu sprechen. Ich hatte keine blasse Vorstellung davon, welche Weiterentwicklungsmöglichkeiten in diesem Genre noch schlummern, und nie hätte ich zu träumen gewagt, dass die fünf Brachialmusiker auf ihre – mit Verlaub – alten Tage diese zu wecken und folglich ein solch überraschendes, überwältigendes Werk zu schaffen imstande sein könnten. Ganz heißer Kandidat für das Album des Jahres 2020!
Anspieltipps: Protector, La Resistance, Uebermacht, The Sorrows Of Victory
- Note:
- 9.50
- Redakteur:
- Timon Krause