HIRSCH EFFEKT, THE - Eskapist
Auch im Soundcheck: Soundcheck 08/2017
Mehr über Hirsch Effekt, The
- Genre:
- Artcore / Avantgarde / Progressive Metal
- ∅-Note:
- 9.00
- Label:
- Long Branch Records (SPV)
- Release:
- 18.08.2017
- Lifnej
- Xenophotopia
- Natans
- Coda
- Berceuse
- Tardigrada
- Nocturne
- Aldebran
- Inukshuk
- Auto
- Lysios
- Acharej
Wahrnehmungsverzerrung par excellence!
Spätestens seit "Holon : Agnosie" muss man THE HIRSCH EFFEKT wahrlich niemandem mehr vorstellen. Das Hannoveraner Trio hat sich trotz anspruchsvollster, von kitschig-süßlich (gelegentlich) bis irrsinnig-hirnverknotender (meistens) musikalischer Gangart nicht nur in die Top 100 der deutschen Albumcharts vorgearbeitet, sondern vor allem mit einem ganz eigenen bis eigenwilligen Sound im Bereich anspruchsvoller harter Rockmusik unwiderruflich in der Riege der Top Acts etabliert. Ein neues Hirsche-Album ist also kein Geheimtipp mehr, sondern durchaus ein gespannt erwartetes Ereignis größeren Formats.
Mit "Eskapist" brechen die Niedersachsen nun aus der bisherigen Reihe ihrer "Holon"-Alben aus. Inhaltlich, aber auch musikalisch markiert der nun erscheinende vierte Studiooutput also eine Zäsur – aber keineswegs so deutlich, wie manche dies gerade nach dem Release der 2. Single 'Inukshuk' befürchtet haben. Durch "Eskapist" erhält "Agnosie" rückwirkend die Rolle des Brückenschlages zwischen den etwas post-corigeren, häufiger orchestral unterlegten Ur-Hirschen und der – wie wir wissen auch aufgrund des Schlagzeugerwechsels von 2013 - stärker metallisch agierenden Formation der fortgeschrittenen 10er Jahre. Dabei verrät auch "Eskapist" die Wurzeln dieser unkonventionellen Truppe keineswegs, nur klingt THE HIRSCH EFFEKT heuer noch mehr nach kaltem tech-metallischem Stahl als zuvor. Und das ist definitiv auch gut so!
Der vierte Hirsche-Streich beginnt völlig unvermittelt und atemberaubend furios, mit dem rasenden Riffgemetzel von 'Lifnej', das als erste Single noch mit dem ruhigen Interlude 'Autio' getarnt war. Also kein Vorspiel, kein Geplänkel, sondern ekstatisches Dauerfeuer, wie man es von unseren Landsleuten in ihren härtesten Momenten kennt. 'Lifnej' ist die Blaupause für eine typische HIRSCH EFFEKT-Nummer (wenn davon denn die Rede sein kann), weil sie von komplexer Vertracktheit über besinnliche Atempausen bis zum eingängigen Kehrversen alles bietet, was die Hannoveraner als Trademarks verbuchen. Besonders das Riffing fällt aber noch eine Spur metallischer aus als zuvor, und diese gestählte Herangehensweise steht dem Trio ausgesprochen gut zu Gesicht. Somit markiert der Opener von "Eskapist" auch gleich die Standortbestimmung der Band anno 2017.
Ansonsten hat sich auf den ersten Blick seit "Agnosie“ wenig geändert. Der Anspruch, aus Freeplay-Jazz-Elementen und abartigen Mathcore-Rechenleistungen auch noch headbangtaugliche Metal-Parts herauszufiltern und dabei gelegentlich abrupt in eine verklärt-melancholische Postcore-Schiene zu wechseln, besteht auch auf dem vierten Streich durchweg. Dabei scheut der Dreier nicht vor überlangen Monstersongs ohne klar erkennbare Strukturen zurück. Eine etwas poppigere Nummer wie das viel diskutierte 'Inukshuk' ist folglich eindeutig eine Ausnahme (also kein "Ausverkauf!", keine Sorge, liebe Hardcore-Fans). "Eskapist" glänzt aber vor allem mit einem durchgängigen roten Faden, der die Songs verbindet: Die Übergänge fallen kaum auf, auch fiese Kurzreißer wie 'Tardigrada' oder die thrashig-punkige Prügelattacke für die selbsternannten Reichsbürger 'Aldebaran' spielen in der ersten Reihe mit und sorgen für wohltuende Kurzweil zwischen den ausufernden Wütereien der Paarhufer.
Verändert hat sich im Laufe der Zeit Nils' Gesang (wobei er auf "Eskapist" ohnehin des Öfteren Bassisten Ilja den Vortritt lässt), weg vom hohen Geschrei hin zu erdigerem Gegrowle. Dadurch wirkt der Hirsche-Sound noch härter und bösartiger als früher, was ganz besonders beim großen Ungetüm des Albums, dem 14-minütigen 'Lysios' zum Tragen kommt. Dieses fette Monster von einem Song, eine zynisch-verzweifelte Abrechnung mit der in unserem Land verharmlosten Volkskrankheit Alkoholsucht, steigt im ersten Drittel mit sattem RAMMSTEIN-Gestampfe ein, zu dem Nils so genüsslich röhrt, als hätte Till Lindemann persönlich einen großzügigen Gastbeitrag beigesteuert. Großes Kino! Dass die Nummer im Weiteren völlig ausartet und alle möglichen Tempobereiche abdeckt sowie wie seinerzeit bei 'Bezoar' eine spöttisch-ironische Sprecher-Passage beinhaltet, sollte an und für sich zwar nicht überraschen, doch es ist genau diese ausufernde Zusammenstellung, die an jeder Ecke immer noch eine weitere coole Wendung parat hält, die den Hörer immer wieder fassungslos vor Begeisterung den Kopf schütteln lässt. Es gibt scheinbar nichts, was THE HIRSCH EFFEKT nicht kann!
Gibt's bei dieser Truppe folglich überhaupt noch irgendeinen Grund zum Meckern? An und für sich ja nicht. Im Vergleich zu "Agnosie" fallen diesmal wohl nur die Kehrverse etwas unspektakulärer aus; auch auf "Eskapist" finden sich Ohrwürmer, doch von 'Inukshuk' abgesehen sind deren Melodien eben etwas weniger umwerfend als auf dem Vorgänger. Auch klingt der klare Gesang an manchen Stellen mitunter sehr straight, fast punkig (siehe 'Berceuse'), was für meinen Geschmack zum eigentlichen Bandsound nicht mehr so gut passt wie bei den älteren Nummern der Hirsche.
Trotzdem ist "Eskapist" ein mehr als würdiger Nachfolger der "Holon"-Trilogie, ein eindrucksvolles Statement einer einzigartigen Band. Bei all dem Irrsinn (oder Anspruch, wie man's nimmt), den die Musik der Hannoveraner transportiert, kommt der Spaßfaktor für die Hörerschaft nie zu kurz, und es gibt wohl kaum eine andere junge Formationen von einer solchen Reife, deren Musik zudem so komplex, so vielschichtig ist und so viel Tiefe zu bieten hat. Spätestens mit "Eskapist" ist THE HIRSCH EFFEKT endgültig angekommen – wo auch immer das im verrückten Musikkosmos unserer Landsleute auch sein mag.
Anspieltipps: Lifnej, Aldebaran, Lysios
- Note:
- 9.00
- Redakteur:
- Timon Krause