JETHRO TULL - The Zealot Gene
Mehr über Jethro Tull
- Genre:
- Progressive Folk Rock
- ∅-Note:
- 7.50
- Label:
- Inside Out
- Release:
- 28.01.2022
- Mrs. Tibbets
- Jacob's Tales
- Mine Is The Mountain
- The Zealot Gene
- Shoshana Sleeping
- Sad City Sisters
- Barren Beth, Wild Desert John
- The Betrayal Of Joshua Kynde
- Where Did Saturday Go?
- Three Loves, Three
- In Brief Visitation
- The Fisherman Of Ephesus
Ein gutes Album ohne Langzeitwirkung
Es ist immer so eine Sache mit Lieblingsbands und einer neuen Veröffentlichung. Während bei einem die positive Anspannung überwiegt, da man sich sicher sein kann, dass ein gewisses Niveau nicht unterschritten wird, überwiegt bei anderen die Unsicherheit, ob die neusten Ideen denn mit den glorreichen Klassikern mithalten können, welche diese Gruppe erst zur Lieblingsband gemacht haben.
Insbesondere dann, wenn, wie im Falle von JETHRO TULL das letzte Album schon über 20 Jahre zurückliegt. Wobei hier ja die Meinungen etwas auseinandergehen, da letzte Veröffentlichungen wir "Homo Erraticus" (2014) und "Thick As A Brick 2" (2012) natürlich 1:1 nach Jethro Tull klingen, aber unter anderem Banner veröffentlicht wurden. Ian Anderson selbst sagte mal, dass wenn das Songmaterial eher akustischer Natur wäre, dann würde er eine Soloplatte präferieren und wenn es mehr rockt dann wird es etwas für JETHRO TULL. Wobei auch diese Kategorisierung nicht dem entspricht, wie die einzelnen Alben schlußendlich klingen.
Wie sieht nun die Erwartungshaltung 2022 von einem Die-Hard-Fan (ich rede hier von Heckscheibenaufkleber-Level) aus? Wenn es also nicht der Tatsache entspricht, dass das neuste Album rockiger oder härter klingt als die letzten Veröffentlichungen, dann doch zumindest qualitativ eine deutliche Steigerung, welche es rechtfertigt "The Zealot Gene" unter diesem Label zu vermarkten und nicht weiterhin als Post-JETHRO TULL Soloalbum.
Und hier macht sich beim Fanboy Ernüchterung breit. Sicherlich gibt es eigentlich wenig zu meckern. Handwerklich ist das ganze erneut herausragend umgesetztes 1-A-Songwriting mit wunderbaren Melodien, kleinen Prog-Gimmicks und schönen Ideen. Ebenfalls ist das Flötenspiel weiterhin absolut grandios und die Texte auch heutzutage noch absolute Referenzklasse. Ich habe sogar das Gefühl, dass Ian Anderson beflügelt durch den losen konzeptionellen Rahmen von "The Zealot Gene" seine lyrischen Giftpfeile zynischer und mit noch besserem Wortwitz als zuletzt verschießt. Für den 74-jährigen scheint die Auseinandersetzung mit der Bibel und deren inhaltliche Widersprüche vitalisierend gewirkt zu haben. Bestes Beispiel dürfte sicherlich der Opener 'Mrs. Tibbets' sein, wo sich das Mastermind mit der Mutter von Paul Tibbets, dem Piloten der Enola Gay und dem Atombombenabwurf auf Japan auseinandersetzt. Auf ein solchen Parkett wagen sich nicht viele Bands.
Aber auch unabhängig von den Texten gibt es musikalische Highlights. Der Titeltrack hat unglaublich Charme und groovt wirklich zeitlos direkt ins Herz, während bei 'Sad City Sisters' mit einem schelmischen Grinsen die große Folkphase gegen Ende der Siebziger aufgegriffen wird. Bei 'Jacob's Tales' gibt es dann sogar einen "Gast" welcher 1968 eine prägnantere Rolle bei JETHRO TULL gespielt hat - mehr möchte ich auch gar nicht spoilern, da jeder Fan hier sicherlich den Überraschungseffekt genießen möchte.
Ebenfalls ein durchgehend starker Song ist das in Weltmusik verwurzelte Kleinod 'Shoshana Sleeping', welches genauso auch auf "J-Tull Dot Com" oder "Roots To Branches" einen prominenten Platz gefunden hätte. Somit kann man festhalten, dass JETHRO TULL im Rahmen seiner Möglichkeiten hier ein gutklassiges, progressives Folkrock-Album eingespielt hat, welches auf die meisten Phasen der eigenen Historie verweist und trotz geballtem Fanservice auch noch besser klingt als der direkte Vorgänger.
Warum bin ich nun nicht komplett begeistert und euphorisiert? Weil es eben trotzdem nur ein gelungenes Alterswerk für Eingeweihte ist, keine neuen Fans hinzugewinnen wird und auch nicht dafür sorgen wird, dass man es im Jahr 2024 anstatt eines Klassikers auflegen wird, wenn man mal wieder Bock auf JETHRO TULL hat. Dem Album fehlt der entscheidende Unique Selling Point in der Diskografie. Will ich Blues hören, werde ich zu "This Was" oder "Stand Up" greifen und wenn mein Herz eher nach eingängigem Hard-Rock dürstet, dann werde ich "Rock Island" oder "Crest Of A Knave" auflegen, auch wenn das Songwriting auf "The Zealot Gene" hochwertiger ist. Ich gehe sogar so weit, dass ich eher den Flop "Under Wraps" hören werde, um JETHRO TULL im ungewohntem Terrain und mit hundsmiserabler Drum-Maschine zu "genießen", bevor mein Griff zum 2022er Album geht. Und von den Meilensteinen aus der Folk-, Prog-, oder progressiven Folkrock-Phase möchte ich erst gar nicht sprechen.
Klar - "The Zealot Gene" ist besser als "Homo Erraticus" oder "Catfish Rising" aber ist das der Anspruch?
Hinzu kommt der Aspekt, dass die Gesangsleistung von Ian Anderson immer stärkere Auswirkungen auf das Songwriting hat. Das Tempo wird immer mehr gedrosselt und bewegt sich im gemäßigten Mid-Tempo. Das ermüdet zumindest mich auf die Dauer doch schon sehr, zumal man diese Limitierung in den Strophen und insbesondere im Chorus hörbar merkt. Das geht schon teilweise stark in die Richtung Spoken-Word und sägt weiter an der eh schon nicht großartigen Dynamik. Schade, dass der Ansatz von "Thick As A Brick 2" und der Einsatz von ähnlich klingenden Gastsängern nicht weiterverfolgt wurde. Das hätte auch diesem Album sehr gutgetan und womöglich für einen strahlenden Platz in der eigenen Diskografie gesorgt. Somit bleibt ein im Kern fehlerfreies Alterswerk, welches das Potential der Band zum aktuellen Zeitpunkt gerecht wird und nur durch eine stärkere Fokussierung auf eine bestimmte Stilistik nachhaltiger hätte wirken können.
Für mich bedeutet es, dass ich nun doch erleichtert sein kann, da Ian Anderson und seine Musiker keinen Totalausfall rausgebracht haben und ich JETHRO TULL weiterhin ohne schlechtes Gewissen als meine Lieblingsband bezeichnen darf.
- Note:
- 7.50
- Redakteur:
- Stefan Rosenthal