RODRIGO, OLIVIA - Sour
Mehr über Rodrigo, Olivia
- Genre:
- Pop-Punk / Mainstream Rock / Indie Pop
- ∅-Note:
- 9.00
- Label:
- Geffen
- Release:
- 21.05.2021
- Brutal
- Traitor
- Driver's License
- 1 Step Forward, 3 Steps Back
- Deja Vu
- Good 4 U
- Enough For You
- Happier
- Jealousy, Jealousy
- Favorite Crime
- Hope Ur OK
Einflüsse des Pop-Punks im großen Mainstream-Zirkus.
Erinnert ihr euch an die frühen Nuller Jahre, als die Kanadierin Avril Lavigne unsere Charts eroberte mit einem Mix aus Punk-Attitüde, rockigen Gitarren, schönen Balladen und Pop-Melodien? Ich bin ihr damals jedenfalls völlig erlegen und stand total auf den extrem mainstreamkompatiblen Rocksound. Und schwupp sind 19 Jahre seit "Let Go" vergangen, erinnert mich eine weitere unheimlich junge Sängerin an exakt diesen Sound. Die Rede ist von der Pop-/Rock-Sensation Olivia Rodrigo. Die Kalifornierin ist mittlerweile 18 Jahre alt und manchen Teens sicher von der "High School Musical"-Serie bei Disney+ bekannt. Ende 2020 unterschrieb sie bei Geffen einen Plattenvertrag. Dass die relativ unbekannte Schauspielerin ein Jahr später mit "Sour" die Liste der besten Alben des Jahres 2021 im renommierten Rolling Stone-Magazin anführen würde hat sich mit Sicherheit niemand erträumt.
Und dass die Sounds zumindest phasenweise absolut kompatibel für unsere Seite sind, wird auch manche überraschen, die nur auszugsweise mit dem Schaffen der Künstlerin vertraut sind. Doch fangen wir noch mal von vorne an: Mit dem Produzenten Dan Nigro wird ihr keine Soundlegende an die Seite gestellt, sondern ein veritabler Pop-Produzent der letzten Jahre, der für Carly Rae Jepsen oder Kylie Minogue nicht gerade Megahits abgeliefert hat. Dazu unterstützte er Rodrigo beim Songwriting; sie hat dabei (als Siebzehnjährige!) für jeden Song Credits erhalten.
Die wunderbar warm produzierte Scheibe durchstreift dabei mehrere Genres. Der Opener 'Brutal' lebt von starken Grunge- und Pop-Punk-Einflüssen. Die Gitarren knallen ordentlich und erinnern nicht nur an den Alternative Rock der Avril-Lavigne-Zeit, sondern auch an die Neunziger. Mit ihrer zerbrechlich-emotionalen Stimme kann sie den großartigen Song völlig dominieren. Mit dem ersten Platz der amerikanischen Rock-Charts erreicht die Nummer zwischen lauter gitarrenlosen Bands wie COLDPLAY, 24KN GOLD oder Billie Eilish tatsächlich den Gipfel und bringt echte Rock-Musik zurück. 'Traitor', der zweite Track, wurde mittlerweile als vierte Single ausgekoppelt und bietet ruhig-verträumten Depri-Pop. Dabei bietet der Refrain durchaus stadionkompatible Hymnenkraft. Neben dem warmen Gesang und dem bewusst dumpfen Schlagzeug überzeugen die Lyrics dieses US-amerikanischen Top-10-Hits. Dass Rodrigo eine absolute Rock-Röhre sein kann, spürt man zudem in jeder Sekunde. 'Driver's License' preschte dann im Januar 2021 in die weltweiten Charts und schien nie wieder zu verschwinden. Von traurigen Klaviertönen getragen erinnert mich vieles atmosphärisch an Billy Joel - ohne den optimistischen Unterton. Acht Wochen auf Platz 1 der US-Single-Charts, dabei auch auf der 1 eingestiegen: Besser kann eine Karriere als Musiker letztlich nicht starten. Dass wir es mit einer für Rock-Fans relevanten Sängerin zu tun haben würden, war auf dieser ersten Single aber nicht zu spüren.
'1 Step Forwards, 3 Steps Back' reißt hier härtetechnisch auch keine Bäume aus. Der von Rodrigo alleine geschriebene Song ist ebenso eine ruhigere Klavierballade. Gerade die Klavierparts erinnern stark an 'New Year's Day' von der größten aktuell aktiven Popkünstlerin Taylor Swift, so dass sie ebenso bei den Songwriting-Credits mit aufgeführt wurde wie ihr damaliger Co-Writer Jack Antonoff. Nicht die schlechteste Verbindung für einen Popsong. Trotzdem fällt dieser Song auch qualitativ auf dem Album etwas ab, nicht nur härtetechnisch. Dafür steigt die Qualität deutlich mit 'Deja Vu', einem der besten Popsongs, den ich ja hören durfte. Der brillante Text, die wunderbaren Gesangsharmonien inklusive mehrerer faszinierend-gehauchter Oktav-Sprünge sorgen dafür, dass man hier letztlich nur von Art Pop sprechen kann. Die Bridge ist zudem auf eine hypnotische Weise unheimlich rockig. Auch hier gibt es übrigens leichte Querverweise zu einem Taylor-Swift-Hymnus ('Cruel Summer'), die aber deutlich weniger auffällig sind. Die Indie-Rock-Referenzen (musikalisch, nicht textlich) sind großartig, und ich lege meine Hand dafür ins Feuer: Dieser Track wird auch in 20 Jahren noch im Radio laufen. Und er ist so viel mehr Rock als vieles, was uns der Mainstream dafür momentan verkaufen will. Dass es nur zu Platz 3 der US-Charts gereicht hat wird Rodrigo vertragen.
'Enough For You' ist deutlich gediegener und ziemlich folk-rockig. Wer die letzten Studioalben von Taylor Swift kennt (nicht ihre Neueinspielungen, sondern "Evermore" und "Folklore"), der kann sich vorstellen, in welche Richtung die Songs gehen. Ähnlich wie Swift ist Rodrigo eine absolute Geschichtenerzählerin, die sich durch ihren Gesang völlig von der Masse abhebt. Die akustische Gitarre regiert hier und wird mit teils harschen, teils einfühlsamen Gesangsmelodien gepaart. Akustik-Rock klang schon lange nicht mehr so gut. 'Happier' ist dagegen eine Piano-Nummer, ebenfalls akustischer Rock, aber halt eher an Carole King orientiert als an Bob Dylan. Dazu gibt es einen sehr warmen Bass und eine schöne Produktion. Trotzdem eher eine durchschnittliche Nummer auf einem hervorragenden Album. Was den Song rettet? Natürlich der Gesang. Etwas härter wird es wieder mit 'Jealousy, Jealousy'. Wir sind wieder im Indie-Rock angekommen, mit mehrstimmigen Gesängen und einem penetranten Bass. 'Favorite Crime' ist dann wieder swiftonianischer, überzeugt stark im folkigen Bereich mit weichen akustischen Gitarrenklängen. Das Album endet mit 'Hope Ur OK', einer Lo-fi-Geschichte, die sicher hängen bleibt, allein aufgrund der mehrstimmigen Chöre, der Indie-Gitarren und der fetten Synth-Klänge. Achtziger-Einflüsse lassen sich nicht leugnen und schaden nicht.
Keine Frage: Dieses Album bietet keinen Metal, und auch keinen Hard Rock. Aber es handelt sich unbestritten um eine herausragende Rock-Scheibe, die eine unheimlich große Prägung auf die aktuell heranwachsende Generation hat. Die Gitarre spielt hier eine so dominante Rolle, wie bei fast keiner Hit-produzierenden Künstlerin seit vielen Jahren (abgesehen von Taylor Swift). Daher wird "Sour" Leute für Rock-Musik gewinnen, sei es in den eher ruhig-akustischen Momenten, oder in den alternativ-punkigen Nummern. Und das ist gut so. Und viele harte Rocker werden das Album (zwangsläufig?) hören, und merken, dass Radio-Musik hervorragend produziert, brillant getextet, wunderbar gesungen und teilweise auch wieder richtig rockig sein kann. Und allein diese Erkenntnis ist die Beschäftigung mit diesem Album wert.
Anspieltipps: Brutal, Good 4 U, Enough For You
- Note:
- 9.00
- Redakteur:
- Jonathan Walzer