City of God
- Regie:
- Fernando Meirelles
- Jahr:
- 2002
- Genre:
- Drama
- Land:
- Brasilien
- Originaltitel:
- Cicade De Deus
1 Review(s)
28.01.2004 | 22:02Brasilien.
Was ist das erste, woran Sie bei Erwähnung des südamerikanischen Staates denken? Sonne, Strand, schöne Frauen, Caipirinha oder Samba?
OK, Leser dieser Seite werden eher an Sepultura, Krisiun und SoulFly denken.
Aber was ist mit Armut, Korruption, Drogenhandel, Gewalt, den krassen Kontrasten zu Schönheit, dem schönen Leben (a vida bonita) und allumfassender Sorglosigkeit?
Ebenso krass wie in den öffentlichen Medien, wird auch eine Schlacht in den Kinosälen ausgetragen.
Wobei hier keine Interviews mit empörten High-Society-Menschen geführt werden, die sich über das Armutsimage ihrer Städte und ihres Landes aufregen und die die Favelas (Gettos, Armutsviertel) am liebsten einfach im Meer versenken würden, oder einem Drogenkurier, der mal wieder von der Polizei ausgenommen wurde und die ganze Stadt in Brand stecken will.
Im Film wird die Schlacht zwischen Arm und Reich um einiges bildgewaltiger und natürlich oft genug um einiges überdrehter dargestellt. So bomben US Amerikaner quer über den Südkontinent Kokafelder platt, bauen Drogenbarone riesige Imperien auf und Straßenkinder ballern sich reihenweise gegenseitig über den Haufen. Auf der anderen Seite ist der Wohlstand des Staates dort so groß, dass die Alleen, in denen die Reichen ihre Villen haben, gar kein Ende nehmen wollen, am Strand 24 Stunden am Tag Party ist und die Farben der Karnevalskostüme das Prisma des menschlichen Hirns übersteigen.
Man kann sich recht schnell denken, was davon tatsächlich so ist, und was gerne mal geradegebogen wird.
Anno 2003 kam ein Film in die Kinos, der schnell für Furore gesorgt hat. "City of God" schlug ein wie eine Granate, nur konnte keiner so wirklich begreifen warum. Eigentlich ist das ganz einfach zu erklären. "Cicade de Deus", wie der Streifen im Original heißt, brilliert durch die Vereinigung der krassesten filmischen Gegensätze: Laienschauspieler bringen den Stoff authentisch und mitreißend rüber, trotz der genialen Schnittfolge und der vertrackten Erzählung bleibt die Distanz des Zuschauers zum Geschehen minimal, und trotz der gekonnten Kameraführung bleibt der Film so realistisch wie man ihn nur machen kann.
"City of God" fasziniert durch seine erzählerische Reife. Man bekommt hautnah mit, wie sich ein Stadtteil von Rio de Janeiro ('Stadt Gottes' genannt) von einer behelfsmäßigen Bretterbudenstadt im Laufe der Jahrzehnte (von 1960 bis 1990) in ein ebenbürtiges Spiegelbild seiner Mutterstadt entwickelt, nur verzerrter.
Erzählt wird die Geschichte von Buscapé, der in diesem Stadtteil aufwächst und hautnah mitbekommt, wie die erste Gang der Stadt Gottes, die noch nach Robin Hood-Manier Propangastransporte plündert und Bordelle überfällt, nach und nach von der Polizei auseinander genommen wird, und dabei noch einen kleinen Jungen auf den Geschmack des Tötens bringt. Die Rede ist von "Löckchen", der schon als kleiner Junge Wehrlose abschlachtet und sich zum stadtbekannten Killer mausert. Während sich Buscapé aus allem Kriminellen raushält und weiterhin die Schulbank drückt, macht "Löckchen" Karriere als Auftragskiller, was ihn aber immer weniger zufrieden stellt. Buscapé macht sich Gedanken über sein erstes Mal und eine Karriere als Fotograf. "Löckchen" schickt sich an, die Drogengeschäfte des Stadtteils unter seine Kontrolle zu bringen, auf bewährte Manier, ohne groß nachzufragen, mit der größten Portion an aufzubringender Grausamkeit.
Als "Löckchen" es unter dem Namen "Locke, der Boss" schafft, sich den Stadtteil unter den Nagel zu reißen, beginnt für ihn eine komplett neue Zeit. Plötzlich ist er nicht mehr der dumme kalte Killer von nebenan, sondern der Chef des kompletten Viertels, wenn auch nicht minder gefürchtet. Durch die Machtübernahme durch Locke werden viele Bandenkleinkriege aus der Stadt geschafft, eine marodierende Kindergang wird mal eben niedergeschossen. Ansonsten widerfährt dem Stadtteil eine ungewohnte Ruhe. Als sich Lockes bester Freund und Gewissen Bené mit Buscapés Strandclique zusammentut, ändert sich plötzlich alles. Locke verwirrt die Beliebtheit seines besten Freundes in der Gesellschaft und beschränkt sich immer mehr auf sein Drogen- und Mordgeschäft. Als Bené begreift, dass das Drogengeschäft zu gefährlich für eine sichere Zukunft ist, beschließt er, mit seiner Freundin die Stadt Gottes zu verlassen, und gibt eine große Abschiedsparty.
Auf der Abschiedsfete eskaliert die angespannte Situation, als Locke merken muss, dass er als kalter Mörder nicht ein Zehntel so viel Erfolg bei Frauen hat wie andere Männer. Als Bené Buscapé eine Kamera schenken will, rastet Locke rasend vor Eifersucht aus. Im Handgemenge mit Bené wird dieser durch einen Attentäter einer rivalisierenden Drogenbande erschossen.
Durch Benés Tod wird der ausgleichende und mildernde Part im Zweiergespann Locke-Bené ausgeschaltet, welcher aus Rache mordend und vergewaltigend den Stadtteil unsicher macht.
Sein Erzfeind Karotte, nun nicht mehr durch Benés friedensstiftende Vermittlung geschützt, rüstet seine Gang auf, um Locke kaltzumachen, der zufälligerweise das gleiche im Sinn hat, nur anders herum. Buscapés große Stunde kommt mitten im blutigen Bandenkrieg, als Locke seine Gang für die Medien in Szene setzen lässt. Mit den Bildern von Lockes Gang bekommt Buscapé die Chance, bei einer Zeitung anzufangen und seinen Fotografentraum wahr zu machen. Ungefährlich ist das ganze nicht, dauernd kommt er mit den Gefechten zwischen den Drogenbanden in Berührung und kann sich nur mit Not heraushalten. Letztendlich kommt es zum Showdown zwischen den Gangs, und Buscapé steckt mittendrin.
So einfach die Story auch ist - zwei Jungs, die sich in zwei völlig andere Richtungen entwickeln und deren Schicksale doch dauernd miteinander verwoben sind, kennen wir schon seit Charles Dickens - der Film schafft es immer wieder mit neuen Überraschungen aufzuwarten und durch die schlüssige Storyline zu begeistern. Dank der Rückblenden wird eine Atmosphäre erschaffen, die mich - wie viele andere Kritiker - an "Pulp Fiction" erinnert. Auch hier wird durch die rückerzählende Timeline nichts vorweg genommen, und der Film bleibt dauerhaft spannend. Die Zeitebenen sind mit verschiedenen Farben hinterlegt, was ja schon beim Drogenfilm-Knüller "Traffic" überzeugend eingesetzt wurde.
Faszinierend ist hier auch die Kameraführung und die Schnittfolge praktiziert worden. Normalerweise kommt mit schnellen Kamerawinkelwechseln und rückwärtiger Erzählung ein klarer Realitätsverlust hinzu, der das ganze zwar spannend und mitreißend darstellen kann, aber den Stoff nicht gerade authentisch rüberbringt.
Regisseur Fernando Meirelles schafft diesen Spagat mühelos, was nicht zuletzt daran liegt, dass er keine professionellen Schauspieler einsetzt, sondern nur Jugendliche aus eben dem Stadtteil, in dem die Geschichte spielt. Dazu kommt noch, dass er die Kamera nicht wild umherfuchteln lässt, sondern wie erstarrt auf die wichtigsten Szenen schauen lässt, und trotz der erzählerischen Freiheit immer wieder eine Szene vorwegnimmt, was einem bei der Kaltblütigkeit des Films wie ein eiskalter Griff in die Magengrube anmutet, der nicht so schnell wieder weg geht. So ist die krasseste Szene Benés Abschiedsfete: Man sieht wie alle feiern, Spaß haben, man sieht den labilen Locke von Selbstzweifeln und Wut zerfressen durch die Gegend schlendern, man sieht den Killer durch das Gedränge kommen, und man weiß haargenau was passiert, und wie alles danach zugrunde gehen wird. Der ganze Film stellt für den Zuschauer eigentlich ein Wechselbad der Gefühle dar. Wie in einer Achterbahn wird der Zuschauer von den kleinen euphorischen Momenten in Buscapés Leben in die grausamen Augenblicke von Lockes Mordlust geworfen.
Der Film beeindruckt durch die meisterhafte Inszenierung, die gelungene Kameraführung und die erstaunlich gute Schauspielerei – letzteres vor allem dann, wenn man bedenkt, dass die Schauspieler eigentlich gar keine sind. Der Film lässt keine Sekunde locker, fesselt im einen Moment durch knallharte und unverdeckte Authentizität und im anderen durch seine erzählerische und filmische Machart des Films. Durch die unblutige, aber nicht minder brutale Action (FSK16) und die schonungslose Darstellung der kindlichen Gewalt (wer in dem Stadtteil zwanzig Jahre alt wird, gilt als alter Mann) lenkt der Film ein wenig von seinem Hauptanliegen ab: die Armut und Zukunftslosigkeit des Stadtteils und seiner Einwohner darzustellen.
Die DVD geizt mit Extras, aber an sich ist der Film ein Pflichtkauf für jeden, der meint, auch nur ein wenig Filmgeschmack zu haben.
Fazit: Anspruchsvoll wie ein Drama, schonungslos wie ein Antikriegsfilm und gefilmt wie ein Tarantino, nur eben brasilianisch.
Mit Sicherheit einer der besten Filme aller Zeiten!
- Redakteur:
- Michael Kulueke