Anamorph - Die Kunst zu töten
- Regie:
- Henry S. Miller
- Jahr:
- 2007
- Genre:
- Thriller
- Land:
- USA
- Originaltitel:
- Anamorph
1 Review(s)
28.01.2009 | 15:01Mord, als edle Kunst verübt
Detective Stan Aubray (Willem Dafoe), nach langjähriger Ermittlungsarbeit im Ruhestand, wird zurück in den Polizeidienst gerufen. Er soll helfen, eine Mordserie aufzuklären, die der eines Serientäters ähnelt, den Stan bereits fünf Jahren zuvor gejagt hat. Markenzeichen des Killers ist es, Tatort und Opfer wie ein außergewöhnliches Kunstwerk zu gestalten. Er schafft eine Anamorphose - eine Darstellung, die eine versteckte Botschaft verbirgt und für deren Entschlüsselung man sie aus einer ganz bestimmten Perspektive betrachten muss. Stan muss bald alles in Frage stellen, um nicht selbst das nächste Opfer zu werden.
Filminfos
O-Titel: Anamorph (USA 2007)
Vertrieb: Koch Media Home Entertainment
Veröffentlichung: 11.07.2008 [Kauf-DVD]
FSK: ab 16
Länge: ca. 99 min
Regisseur: Henry S. Miller
Drehbuch: Tom Phelan, Henry S. Miller
Musik: Johnny Klimek, Reinhold Heil
Darsteller: Willem Dafoe, Peter Stormare, Scott Speedman, Paz de la Huerta, Mick Foley, Elizabeth West, James Rebhorn, Deborah Harry, Clea DuVall u. a.
Handlung
Detective Stanley Aubray (Dafoe) hat vor fünf Jahren die Serienmorde von "Onkel Eddy" aufzuklären gehabt. Besonders der Mord an einer Prostituierten, die Stan kannte und die aus dem Fluss gefischt wurde, ging ihm nahe. Nach einem Polizeieinsatz, bei dem ein verdächtiger Mann erschossen wurde, hörten die Morde auf. Aber da er den Verdächtigen nie verhören konnte, ist sich Stan nicht sicher, ob er den Richtigen erwischt hat. Er hielt die Klappe, um seine Kollegen zu decken. Inzwischen ist er ja im Ruhestand und verbringt seine Tage mit Dozieren an der Polizeiakademie. Allerdings hängt er an der Flasche und besucht hin und wieder Sandy Strickler, eine Bekannte aus der Klinik der Anonymen Alkoholiker.
Jetzt wird Stan wird zu Hilfe gerufen. Ein Pärchen hat per Zufall in einem Hotelzimmer eine bizarre Bildprojektion und üblen Gestank entdeckt. Die Projektion erinnert Stan an die "Kunstwerke" aus Leichen und Leichenteile, für die Onkel Eddy bekannt war. Die Projektion erfolgt wie bei einer Camera obscura - Stan kennt sich inzwischen mit Kunst gut aus - durch ein Loch. Er lässt die Wand niederreißen und stößt auf das Mordopfer, das Original der Projektion. Sein Kollege, Detective Carl (Speedman), glaubt an einen Trittbrettfahrer von Onkel Eddy, aber Stan pflichtet ihm nicht bei.
Per Zufall findet Stan im Antiquitätenladen nahe seiner Wohnung ein Gemälde, das genau dieses Leichen-Kunstwerk zeigt. Er ahnt, dass es eine Botschaft an ihn ist. Wenig später findet er heraus, dass sein schönster antiker Stuhl gestohlen wurde. Stattdessen steht ein Tonbandgerät auf seinem Tisch. Auf dem Band ist seine Aussage über Onkel Eddy zu hören, die er vor der Dienstaufsicht gemacht hat.
In einem verlassenen Schiff im Hafen von New York stoßen er und Carl auf die fehlenden Körperteile des Opfers im Hotelzimmer, aber auch auf die eines anderen Opfers, eines Schauspielers. Nur wenn er die an Schnüren aufgehängten Teile aus einem ganz bestimmten Winkel betrachtet, ergeben sie eine verständliche Darstellung - in diesem Fall einen geierartigen Vogel. Er fragt seinen Antiquitätenhändler (Peter Stormare) nach diesem Phänomen. Der erklärt ihm die Technik der Anamorphose, die in der Renaissance den Malern dazu diente, Dinge in einem Bild zu verstecken. Man sah sie nur dann, wenn man das Bild aus einem ganz bestimmten Blickwinkel betrachtete. Beispielsweise einen Totenschädel.
Bei einem Galeristen findet er seinen antiken Stuhl wieder - und ein Lehmabbild des Geiers aus dem Schiff. Im Lehm sind Fingerabdrücke, die sich zuordnen lassen. In einer kleinen Lagerhalle finden Stan und Carl das "Atelier" des Mordkünstlers und eine Botschaft: "Gerri Harden". Stan glaubt, es handle sich um ein Anagramm, ein Rätsel aus umgestellten Buchstaben. Könnte dies eine Anspielung auf die Tote im Hafen sein? Dann wäre der Künstler der echte Onkel Eddy. Sandy Strickler kann ihm keinen Hinweis geben, aber die Erinnerungen kochen wieder hoch. Allmählich merkt sein Kollege Carl, dass Stan etwas vor ihm verbirgt, und heftet sich an seine Fersen.
Als Sandy Strickler verschwindet und er ihr Gesicht auf einem Foto der Anonymen Alkoholiker neben einem Mann namens Michael C. entdeckt, weiß er, wo er Sandy wiederfinden könnte: in jenem Atelier an der Spruce Street. Doch wird er noch rechtzeitig kommen? Wer weiß, was der Mordkünstler inzwischen mit ihr angestellt hat ...
Mein Eindruck
Man merkt es dem Film an, dass es sich um die erste Regiearbeit von Henry S. Miller handelt. Die Production Values sind alle vorhanden, und der Zuschauer bekommt Spannung und Psychologie geboten. Was jedoch fehlt, ist eine persönliche Note. Daher schließt der Film einen Kompromiss: Miller traut sich nicht, ein Psychogramm Stan Aubrays zur letzten Konsequenz zu treiben. Das böte zu wenig Action und Tempo.
Andererseits hat er nicht genug Geld, um wilde Verfolgungsfahrten und rasante Actionszenen drehen zu können, wie es vielleicht James Cameron oder Luc Besson hinbekämen. Das Ergebnis ist ein schon fast europäisch anmutender Thriller, der durchdacht ist, aber nur dem intelligenten Zuschauer wirklich etwas bietet. Dies ist definitiv kein Popcorn-Kino. Möglicherweise wurde der Streifen sogar für den Euromarkt gedreht.
~ Anamorphose ~
Das kommt nicht von ungefähr, denn die zentrale Idee und Metapher des Films ist rein europäisch: Die Anamorphose wurde in der Renaissance von italienischen und deutschen Malern angewandt, um ein Bild B in einem größeren Bild A zu verstecken. Entdeckt man Bild B aus einem schrägen Blickwinkel, so erhält man einen subversiven Kommentar auf Bild A, der dessen Botschaft, zum Beispiel Erfolg und Reichtum, ins Gegenteil verkehrt, etwa durch Darstellung eines Totenschädels (= Vergänglichkeit). Auf die obszöneren Möglichkeiten will ich lieber nicht eingehen.
~ Der Pantograph ~
Der auf Kunst erpichte Mordkünstler rennt bei Stan, der einen Kunsthändler zu seinen Freunden zählt, natürlich offene Türen ein. Stan lässt sich auf das Spiel des Mörders ein, wird sogar zu dessen Gehilfen. So etwa, als ein Hinweis ihn in ein Loft führt, auf dem drei Gemälde hinter der frischen Leiche von Stans Exkollegen George stehen. Ein Gemälde ist offensichtlich unfertig. Ein Pinsel steckt im Blut in Georges Bauchhöhle. Pinsel, Farbe, Leinwand - es bleibt nur noch eines zu tun: malen.
Doch Stan muss zuerst dieses seltsame, kranähnliche Zeichengerät verstehen, um auch die Absicht des Künstlers zu begreifen. Es handelt sich um einen Pantographen. Er dient dazu, eine kleinformatige Vorlage auf eine großformatige Leinwand exakt und ohne Abweichungen zu übertragen. Stan meistert die makabere Aufgabe mit Bravour. Und kommt sich irgendwie verändert vor.
Die Anamorphose erfordert die Änderung des Blickwinkels des Betrachters. Stan, der zwischen einem kontrollierten Äußeren und einem zerrissenen Inneren nur den Alkohol als Vermittler benutzt, muss seinen Standpunkt ändern. Das verlangt der Mordkünstler. Und Stan muss dies schnell genug begreifen, um nicht selbst zum nächsten Kunst-Objekt des Mörders zu werden. Seinen antiken Stuhl hat der Mörder schon entwendet, jetzt muss er nur noch Stan draufsetzen - und dann? Das soll nicht verraten werden.
~ Dafoe ~
Wie er in seinem Interview sagt (siehe unten), hat sich Dafoe in die zentrale Figur hineinversetzt, und zwar nicht vorher, sondern während des Spielens. Er zeigt, angetan mit einem höchst konservativen Haarschnitt und Anzug, dass Stan kein Teil der Cop-Kultur ist, ein Außenseiter, der von seinem Kollegen Carl kritisch beäugt wird. Das kontrollierte Outfit kaschiert Stans Schuldgefühle wegen des Geheimnisses, das er mit sich herumschleppt.
Nur Sandy erzählt er davon, dass Cristal Dreiser womöglich ein Opfer wurde, weil er sie nicht rechtzeitig gewarnt hatte. Doch die Dienstaufsicht hat ihn von jeder Schuld freigesprochen (in der ersten Szene). Nun zwingt ihn der Mordkünstler, einen anderen Blickwinkel einzunehmen (Anamorphose) und diese Tat und Schuld neu zu bewerten. Er könnte Sühne leisten, wenn es ihm gelänge, Sandy vor dem Mörder zu retten.
Die Rückblenden, in denen dies erfolgt, sind mit einem speziellen optischen Trick verfremdet. Es sieht aus, als wäre das Bild mit weißen Schlieren überblendet worden. Hauptsache, jeder kapiert, dass es sich um eine Rückblende handelt. Einmal steht Stan einem erinnerten Leichenfundort gegenüber, weil der Mordkünstler diesen Ort zitiert hat. Nun macht Stan einen Schritt vorwärts - und befindet sich direkt in der Vergangenheit vor fünf Jahren, als ihm jene Leiche (Cristal Dreiser) gezeigt wurde. Direkter kann man den Zugang zur Vergangenheit nicht mehr darstellen.
Die DVD
Technische Infos:
Widescreen (2.35:1 - anamorph)
Tonformate:
Dolby Digital 5.1 in Deutsch
Dolby Digital 5.1 in Englisch
DTS Digital 5.1 in Deutsch
Sprachen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Extras:
1. Originaltrailer
2. Behind the Scenes (ca. 16 Minuten mit Untertiteln)
3. Interviews mit Cast und Crew (ca. 28 Minuten mit Untertiteln)
4. Bildergalerie
Mein Eindruck: die DVD
Die Qualität des Bildes ist einwandfrei, ebenso der Ton. Nutzt man statt DTS statt des üblichen DD 5.1, so erhält man eine bessere Darstellung der Bässe. Das kann bei den vielen bedrohlichen Szenen recht willkommen sein.
EXTRAS:
1. Originaltrailer (Deutsch und Englisch)
Der deutsche und der englische Trailer sind jeweils 2:04 Minuten lang und reizen mit ihren rasanten Schnitt- und Szenenfolgen den Appetit des Zuschauers, sich diesen scheinbaren Actionreißer reinzuziehen. Nichts könnte ferner von der Wahrheit liegen.
2. Behind the Scenes (15:27 Minuten mit Untertiteln)
Eine ziemliche langweilige und unkommentierte Dokumentation der Dreharbeiten.
3. Interviews mit Cast und Crew (ca. 27 Minuten mit Untertiteln)
Der mit Abstand interessanteste Beitrag zu den Extras. Hier erfahren wir von Henry S. Miller, dass dies sein Filmdebüt als Regisseur darstellt. Zuerst gab es die Idee, einen Serienmörder zu einem Künstler zu machen und ihn die Anamorphose anwenden zu lassen. Diese alte Maltechnik wird zu einer Metapher für die Änderung der Sichtweise des Ermittlers Stan Aubray. Erstaunlich ist auch, dass Willem Dafoe von Beginn an der Wunschkandidat für die Hauptrolle des Stan war. Man kann sich leicht vorstellen, wie erleichtert Miller und die Produzentin Marissa McMahon waren, als Dafoe, ein vielbeschäftigter Schauspieler ("Spiderman 1-3"), endlich zusagte.
Dafoe war vor allem an dem Charakter Stans interessiert, der äußerlich ein ruhiges, kontrolliertes Leben führt, aber innerlich mit seinen Dämonen kämpft, vor allem mit der Schuld, den Tod der Frau im Hafen (Cristal Dreiser) nicht verhindert zu haben. Der Serienmörder bringt ihn dazu, sich dieser verdrängten Vergangenheit zu stellen und sich ihr aus neuem Blickwinkel zu nähern: Anamorphose.
Scott Speedman wird allseits gelobt, nicht nur als heiterer Mensch, sondern auch als einfallsreicher Schauspieler. Er trat in "Underworld 1 & 2" auf. Er bestand darauf, seine Figur des Carl nicht zu einem jüngeren Lehrling des großen Meisters Stan Aubray herabzuwürdigen, was den Film zu einem der sattsam bekannten Buddy-Cop-Streifen gemacht hätte. Vielmehr baute er Carl zu einem unbequemen Dreckskerl auf, der sich als Stans Rivale betrachtet und ihm hinterherspioniert. Die beiden sind sich ebenbürtig und bauen daher eine zusätzliche Spannung auf, die dazu führt, dass wir Stans Rolle in diesem Geschehen hinterfragen statt ihn anzuhimmeln. Speedman selbst war von den Mordsets beeindruckt, insbesondere von dem Pantographen.
4. Bildergalerie
Die Galerie, durch die sich der Zuschauer klicken muss, umfasst etwa 30 Vierfarb- und Schwarzweißaufnahmen von den Dreharbeiten, also keine Standbilder von Filmszenen. Das ist recht ungewöhnlich.
5. Trailershow
Geboten werden Trailer zu folgenden DVDs:
- Intimate Enemies
- Towards Darkness
- Lords of the Street
- Gene Broadway
- The Fifth Patient
- Sex and Death 101
- Never forget
- Ein Song zum Verlieben
Unterm Strich
"Anamorph" erinnert in den makaberen Szenen an den deutschen Thriller "Tattoo" (mit August Diehl) sowie natürlich an "Das Schweigen der Lämmer": Mord als Kunst verstanden. Doch diesmal kommuniziert der Mordkünstler mit dem ihn hetzenden Ermittler und bringt ihn dazu, seinen Standpunkt zu ändern. Doch kann er wirklich auf Vergebung durch einen Cop hoffen? Wir sollten uns nicht darauf verlassen, denn schließlich steht auch das Leben des Ermittlers auf dem Spiel.
Woran es dem Film mangelt, sind eine Romanze - Smalltalk mit der drogensüchtigen Prostituierten Sandy bei den AA zählt nicht dazu -, ein stimmiges Psychogramm und ein optisch wie actionmäßig ausgefeilter Thriller. Die Produktion sammelt von allem etwas, bringt auch eine begreifliche Story zustande, aber New York City im Januar ist nicht gerade die angenehmste Kulisse. Da könnte man sogar "French Connection 3" inszenieren und es würde aussehen wie "Der eiskalte Engel" von Melville. Daran fühlte sich Dafoe in seinem Interview sogar erinnert, und man kann das leicht nachvollziehen.
Das Bonusmaterial hat mich nur bei den Interviews überzeugt, und dann auch nur, wenn sich Regisseur, Produzentin und Schauspieler nicht gegenseitig die Schulter klopften. Das war am ehesten bei Dafoe der Fall. Er überragt alle anderen und dominiert den Film nicht grundlos: ein fabelhafter Schauspieler. Warum hat er bei diesem Projekt bloß mitgespielt?
- Redakteur:
- Michael Matzer