Darwins Alptraum
- Regie:
- Hubert Sauper
- Jahr:
- 2004
- Genre:
- Dokumentarfilm
- Land:
- Belgien / Frankreich / Österreich / Kanada / Finnland / Schweden
- Originaltitel:
- Darwin's Nightmare
1 Review(s)
23.01.2006 | 05:43Im Jahr 1860 wurde eines der bedeutendsten Werke der Naturwissenschaft veröffentlicht. Es handelt sich dabei um "Vom Ursprung der Arten durch Mittel der natürlichen Selektion oder die Erhaltung bevorzugter Rassen im Kampf um das Leben" von Charles Darwin. Über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren hatte der britische Naturforscher eine Theorie zur Evolution entwickelt, die auf dem Prinzip der natürlichen Auslese beruht. Vielen dürfte in diesem Zusammenhang auch der von Alfred Russel Wallace geprägte Begriff "survival of the fittest" geläufig sein. Das Prinzip der natürlichen Selektion besagt, dass sich die Organismen als Folge eines Anpassungsprozesses in verschiedene Arten aufteilen. Jede neuzeitliche Evolutionstheorie leitet sich von Charles Darwins Ergebnissen und Schlussfolgerungen ab.
Heute ist Darwins Theorie Realität. Eine Realität, die so pervers ist, dass der Engländer sich eine derartige Situation wahrscheinlich nicht mal in seinen düstersten Stunden hatte vorstellen wollen. Aus diesem Grund könnte der Titel von Hubert Saupers Dokumentarfilm gar nicht treffender gewählt sein. Denn der Österreicher zeigt in "Darwin's Nightmare" nichts anderes als den im Titel beschriebenen und vor allem wahr gewordenen Albtraum, ein absolutes Horrorszenario. Die Selektion innerhalb der menschlichen Rasse hat Ausmaße angenommen, die nur in einer totalen Katastrophe enden können. Auf dem Weg dorthin werden Millionen und Abermillionen von Menschen auf der Strecke bleiben, wenn sie nicht bereits von einer immer weiter fortschreitenden Globalisierung förmlich überrollt und aussortiert wurden.
Einen kleinen, aber erschütternden Bruchteil der Auswirkungen dieses Prozesses bekommt man nun in "Darwin's Nightmare" ungeschönt zu sehen. Und ich warne jeden, der ins Kino geht oder eine DVD leiht/kauft, um von seinen eigenen Sorgen und Nöten Abstand zu gewinnen – was völlig legitim ist –, sich diesen Film anzusehen; gleichzeitig möchte ich aber trotzdem dazu aufrufen, eineinhalb Stunden seiner Zeit zu opfern, um sich diese Doku zumindest einmal anzuschauen. Ganz besonders richtet sich diese Aufforderung an die in unserem Land in Legionsstärke anzutreffenden Querulanten, die mit den hier gezeigten Bildern im Hinterkopf vielleicht bei der nächsten lächerlichen Lappalie einfach mal ihre Fresse halten anstatt gleich Amok zu laufen.
Die Chronologie einer Katastrophe
Hubert Sauper porträtiert in seinem Film die Lebensumstände der Menschen in Mwzana, einer Stadt direkt am Viktoriasee, die heute einer der größten Industrie- und Wirtschaftsstandorte des Landes Tansania ist. Der Preis, den die Bevölkerung dafür zahlen musste, übersteigt allerdings fast jede Vorstellungskraft.
Das ganze Übel begann damit, dass irgendwelche superklugen weißen Wissenschaftler in den Sechzigerjahren ein Experiment im Viktoriasee begannen. Sie setzten den Nilbarsch – ganz zufällig ein begehrtes Nahrungsmittel in der westlichen Welt –, in dem riesigen Gewässer aus. Der Barsch vermehrte sich rasend schnell und hat bis heute fast alle 400 (!) Fischarten des Sees ausgerottet (auch darauf zielt der Filmtitel ab). Was sich so im Hier und Jetzt als ökologischen Supergau darstellt, ist für die Menschen Mwanzas zu einem Überlebenskampf geworden, den sie am Ende verlieren werden. Denn mit der Vermehrung des Nilbarschs kamen westliche Wirtschaftsbosse, die großen Profit witterten. Und sie kamen wie die Heuschrecken. Sie machten sich regelrecht über die Einheimischen her, errichteten Fischverarbeitungsfabriken, damit wir Westeuropäer unsere Luxusnahrung bekommen, und scheffelten Geld ohne Ende. Ehemalige Lehrer waren dadurch gezwungen, sich fortan als Fischer oder Fabrikangestellte irgendwie durchzuschlagen. Sie leben in menschenunwürdigen Verhältnissen am Rand des Sees, wo sie täglich Freunde, Verwandte und Bekannte begraben müssen, die nicht so viel "Glück" hatten wie sie, und ernähren sich von den Fischresten, die sich nicht in den tollen Westen verscherbeln lassen.
Täglich werden in der riesigen örtlichen Fischfabrik Tonnen von Nilbarsch verarbeitet, die – ebenfalls täglich – auf dem Teller von Millionen von Weißen landen; in unmittelbarer Nähe müssen die Menschen jedoch elendig Hunger leiden. Man fliegt die Nahrung buchstäblich vor ihren Augen in den Westen. Schockierend ist in diesem Zusammenhang die völlige Ahnungslosigkeit oder Ignoranz (?) des Fabrikchefs (natürlich kein Einheimischer), der aus der Zeitung (!) erfährt, dass in Tansania eine Hungersnot herrscht. Eine Hungersnot, die ein paar hundert Meter vom Fenster seines klimatisierten Büros entfernt in all ihrer Grausamkeit zu beobachten ist.
Diese Situation bildet den Ausgangspunkt für eine Reihe von Problemen. Denn was passiert dort, wo so unvorstellbar großes Elend in der Bevölkerung herrscht? Genau: Es kommt zu Konflikten zwischen den Menschen, da jeder ums nackte Überleben kämpft. Jeder muss seinen eigenen Fortbestand sichern. Und zwar mit allen Mitteln. Der nächste, fast schon logische Schritt ist – die westlichen Verbrecher sind ja nicht doof, wenn es um Gewinnmaximierung geht –, dieses Konfliktpotenzial gnadenlos auszunutzen. So bringen die großen Transportmaschinen auf ihren Rückflügen keine Hilfsgüter in die Region, sondern Unmengen von Waffen, die sich auf dem Flugfeld von Mwzana bestens umschlagen lassen, da es überhaupt keine Kontrollen gibt.
In Anbetracht dieser katastrophalen Zustände ist das Auftreten eines EU-Deligierten fast schon als abartig zu bezeichnen. In einer von Hubert Sauper gefilmten Pressekonferenz lobt dieser Abgesandte die tolle Infrastruktur, die sanitären Anlagen und den reibungslosen Produktionsablauf in den Fabriken (heute erfüllen viele dieser Fabriken EU-Lebensmittelrichtlinien). Das Schlimme an derartigen Aussagen ist, dass sich die tansanische Regierung diese Schulterklopferei natürlich gerne gefallen lässt, da es ihnen signalisiert, dass ihr Land im internationalen Wettstreit konkurrenzfähig ist. Und man kann ihnen ihr Verhalten auch überhaupt nicht vorwerfen, nur übersehen sie die verheerenden Auswirkungen, die damit verbunden sind.
"Darwin's Nightmare" zeigt letztlich eine Fülle von Problemen, die ich gar nicht alle in dieser Rezension ansprechen kann. Es handelt sich dabei um Probleme, die fast nicht zu lösen sind, ohne damit weitere zu schaffen. Und das ist leider die erschreckende Erkenntnis, die man bei diesem Dokumentarfilm gewinnt. Man kann versuchen, das Leid der Menschen etwas zu lindern (z. B. indem der weltfremde Papst endlich konsequent von seiner schlicht gefährlichen Haltung zum Thema Verhütung abrückt, die auch in Mwzana eine völlig explodierende Zahl an AIDS-Toten zur Folge hat), ob man an der Gesamtsituation jedoch etwas ändern kann, ist äußerst fraglich.
Schließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Film, das in zwei Sätzen die Situation der Menschheit beschreibt: "Gott hat die Welt erschaffen und begrenzte natürliche Ressourcen bereitgestellt. Die Menschen raufen sich um diese Ressourcen."
- Redakteur:
- Oliver Schneider