Vital
- Regie:
- Shinya Tsukamoto
- Jahr:
- 2004
- Genre:
- Drama
- Land:
- Japan
2 Review(s)
22.05.2006 | 13:32Hintergrund
"Vital" ist Shinya Tsukamotos zehnter Film. Tsukamoto (*1960) ist einer der Kult-Regisseure Japans, die überwiegend auf eine jugendliche Fangemeinde zurückgreifen (was ihm sehr missfällt - er diffamierte sie als Individuen, die ein bedeutungsloses Leben lebten). Anfangs wurde er auf Grund seines visuellen Stils und der Thematik seiner Filme noch mit David Lynch verglichen (1988, "Tetsuo"), mittlerweile hat Tsukamoto jedoch seinen eigenen Stil gefunden. Im Kern seiner Geschichten geht es immer um Menschen in der Großstadt (Tokio) und den Einfluss der Stadt auf deren Leben. Häufig steht dabei der Protagonist seinem Antagonisten im Wettstreit um eine Frau gegenüber. Visuell zieht Tsukamoto die Handkamera vor, deren hektische Bewegungen seinen Filmen eine besondere Dynamik verleihen. Der Einsatz von Farbfiltern ist auch sehr häufig zu beobachten. Wie viele seiner japanischen Kollegen hat auch Tsukamoto kein Problem mit graphischer Gewalt, Absurdität und dem Skurrilen. Sein 2004-er Output "Vital" unterscheidet sich stilistisch recht stark von seinen vorherigen Filmen, ohne dabei den Kern seiner Filme zu vernachlässigen.
Handlung
Hiroshi Takagi (Tadanobu Asano) wacht nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus auf. Bei diesem Unfall erlitt er eine Amnesie und verlor seine geliebte Freundin Ryôko (Nami Tsukamoto). Wieder zu Hause angekommen, stößt er auf ein staubiges Buch - dabei handelt es sich um ein Anatomiebuch. Hiroshi entdeckt so seine Liebe für die Medizin und beginnt ein Medizinstudium an der Universität von Tokio. Wie sich kurze Zeit später herausstellt, hatte er vor seinem Unfall schon mal Medizin studiert, dieses Studium jedoch nach Familienstreitigkeiten abgebrochen. Nach drei harten Jahren mit sehr guten Noten steht die Sezierung einer Leiche auf dem Lehrplan. Zusammen mit seiner (neuen) Freundin Ikumi (Kiki) seziert er die Leiche einer jungen Frau, die von Beginn an eine mysteriöse Faszination auf ihn ausübt. Mit jedem Schnitt kommen neue Erinnerungen hoch, mit jedem sezierten Organ kommt ihm die junge Frau auf dem Tisch vor ihm bekannter vor. Visionen von einem Leben mit der vor ihm liegenden Frau spuken in seinem Kopf, werden immer realer und greifbarer. Mit der Sezierung der Leiche lüftet Takagi schließlich das dunkle Geheimnis seiner Vergangenheit...
Kritik
"Vital" ist einer dieser Filme, die nicht nur schwer verdaulich sind, sondern einen auch noch Tage nach dem Sehen beschäftigen. Regisseur Shinya Tsukamoto schafft hier in ungewohnter Weise einen ruhigen, intensiven und verstörenden Film, der in seinem morbiden Nihilismus viele Fragen aufwirft, jedoch auch viele (philosophische) Antworten gibt.
Der Protagonist dieses Films ist ein einzelgängerischer, mürrischer und sehr ruhiger Charakter, der über die 86-minütige Filmdauer nicht mehr als 25 Zeilen Text von sich gibt. Ohne eine große Einleitung wirft Tsukamoto den Zuschauer in die Handlung, lässt ihn nicht mehr über den Protagonisten Hiroshi wissen, als dieser über sich selbst weiß. Die häufigen Rückblenden und Visionen erläutern grob und sehr zerfahren die Hintergründe der Hauptfigur, bilden jedoch auch die Brücke zwischen der verloren geglaubten Vergangenheit und der Realität im Universitätskeller. Hierbei wirken die Bilder der Realität sehr trist und schmutzig, zeigen den Protagonisten als niedergeschmetterten und tief-traurigen Menschen, der mittels seines Studiums vor der verlorenen Vergangenheit davonrennt. Die Rückblenden und seine Visionen bilden das krasse Gegenteil dazu. Kräftige, wunderschöne Naturaufnahmen zeigen einen glücklichen Hiroshi, vereint mit seiner geliebten Ryôko - ohne dabei jedoch immer wieder dezente Hinweise auf die vergessene Vergangenheit zu geben. So entsteht ein verwirrendes Spiel aus Realität und Vision, aus dem Jetzt und der Vergangenheit. Weitere Charaktere mit eigenen Intentionen erleichtern das Verständnis des Handlung nicht im Geringsten, erschweren es teilweise sogar noch. Was will Hiroshis Freundin (ist es überhaupt seine Freundin?) Ikumi? Welche Absichten verfolgt sein Vater? Warum können Ryôkos Eltern Hiroshi nicht verzeihen? Glücklicherweise liefert "Vital" nicht auf alle gestellte Fragen treffende Antworten, lässt gar vieles im Dunkeln und bietet die Möglichkeit der multiplen Interpretation.
Bei all dem ist vor allem die grandiose Visualisierung herausragend. Wunderbar ruhig und fast schon informell gibt sich die Kamera, zeigt den langhaarigen Protagonisten ein fürs andere Mal beim Sezieren der Leiche (Gänsehaut pur!), ohne dabei graphisch oder widerlich zu werden. Fast schon unterkühlt zeigt Tsukamoto hier die Sezierung eines Menschen, nur um dann immer wieder im richtigen Moment in einen verstörenden, aber farbenfrohen Rückblick zu schneiden. Die kurz zuvor gesehenen Bilder menschlicher Organe überschneiden sich mit herrlichen Naturaufnahmen, der depressive Hiroshi blüht mit der Vision der lebendigen Ryôko förmlich auf. Sinn macht das im ersten Moment herzlich wenig - schön anzuschauen und emotional sehr befriedigend ist es aber allemal!
Erst im weiteren Verlauf der Handlung schließt sich langsam der Kreis um Hiroshi und die Leiche. Nach und nach, mit zunehmender Erinnerung, vermag das Gesehene seinen Sinn zu offenbaren; und dennoch bildet das Ende keinen Abschluss im herkömmlichen Sinne. Nein, viel mehr ist das Ende der Anfang des Puzzles, der Moment der Rekapitulation. Gerade aus diesem Grund wird jeder seinen eigenen Film sehen, die für ihn schlüssigen Zusammenhänge aneinanderreihen und das Mysterium des Protagonisten für sich ergründen. Was am Ende allen Interpretationen gemeinsam bleibt, ist ein verstörendes, trauriges und depressives Gefühl, verursacht durch Shinya Tsukamotos zehnten Film. Dabei muss zum Ende hin gesagt werden, dass gerade die Kamera mit ihren ruhigen Bildern, gepaart mit der atmosphärischen, weil minimalistischen Musikkulisse eine Stimmung aufbaut, die bedrückender kaum sein könnte: Intensiv, verwirrend, grandios. Auch die vielen Farbfilter tragen ihren Teil dazu bei (egal ob das Bild gerade blau-stichig, grau-stichig, oder in kräftigem Rot erscheint - es ist immer zu 100% passend.)
Was die Schauspieler angeht sollte man nicht zuviel erwarten (der Name Tadanobu Asano wiegt schwer) - der Stil des Films lässt großes Aufspielen einfach nicht zu! Das soll jedoch nicht heißen, dass Tadanobu Asano seine Sache nicht gut macht. Das Darstellen einer Amnesie kann durch Overacting schnell unglaubwürdig geraten. Auch hier ist weniger mehr, was Asano sehr gut auf den Schirm transportiert. Seine deutliche Mimik samt leerem Blick überzeugt von Beginn an, ein richtig großes Aufspielen bleibt jedoch aus. Auch die beiden weiblichen Hauptrollen (Ryôko- Nami Tsukamoto, und Ikumi- Kiki) kommen über ein 'machen ihre Sache gut' nicht hinaus. Intensiv auf der einen, bruchstückhaft in der Charakterzeichnung auf der anderen Seite. Dies liegt aber keinesfalls an der schauspielerischen Leistung, sondern viel mehr am Skript des Films (was jedoch auch nicht als Kritik zu verstehen ist!). Anders verhält es sich da bei den Nebenrollen: Gerade die Väter von Hiroshi (Kazuyoshi Kushida) und der toten Ryôko (Jun Kunimura) spielen groß auf. Hier zeigt sich eine wunderbare Charakterentwicklung, die beide Darsteller sehr gut rüberbringen. Auch wenn es hier weniger wichtig scheint, tun diese Leistungen dem Film sehr gut.
Die DVD
Die DVD von REM kommt in einem wunderschönen Digipack samt Poster daher (gerade für Sammler und Liebhaber sehr interessant), leistet sich sowohl beim Bild als auch beim Ton und den Extras kaum Schwächen. Die Bildbeurteilung (Widescreen (1.85:1 - anamorph)) gestaltet sich dabei sehr schwierig, da in "Vital" kaum eine natürliche Farbwiedergabe anzutreffen ist. Wie schon weiter oben beschrieben wechselt das Bild ständig von einem Farbfilter zum nächsten, inklusive dem Schwarzwert. So findet man in einer Sequenz einen schönen Kontrast mit einem satten Schwarz vor, nur um in der nächsten Szene mit einem blassen Grau Vorlieb nehmen zu müssen. Die Schärfe weiß leider nicht so recht zu gefallen, viel zu häufig verschwinden Details im Hintergrund. Diese Unschärfen reichen teilweise bis in die Nahaufnahmen! Dropouts und Verschmutzungen gibt es glücklicherweise keine, lediglich leichte, stehende Rauschmuster treten auf. Dennoch ist das Bild alles in allem gut.
Der Ton (Deutsch/Japanisch Dolby Digital 5.1) enttäuscht hingegen ein wenig. Zwar sollte man bei einem Drama wie "Vital" kein Soundgewitter erwarten, ein wenig mehr Raumklang wäre jedoch wünschenswert gewesen! So spielt sich der Großteil des Geschehens im Frontbereich ab, die Rears werden einzig für den Score und einige wenige Umgebungsgeräusche genutzt. Ganz selten darf der Sub auch mal dröhnen, bleibt dabei jedoch dezent im Hintergrund. Die Dialogwiedergabe ist bei einem so ruhigen Film natürlich eher unproblematisch, wirkt im Vergleich zum japanischen Original aber ein wenig lauter. Diese ist nicht nur natürlicher, sondern bietet auch noch mehr Dynamik (gerade im Rearbereich) - nicht nur Puristen sollten diese Tonspur auswählen!
Bei den Extras sind die Interviews mit dem Regisseur und dem Maskenbildner besonders empfehlenswert, liefern sie doch nahezu essenzielle Beiträge bezüglich der Intention des Films. Hier erfährt man Tsukamotos Naturansatz (durch das Beiwohnen einer Sezierung eines Menschen erkannte er den naturellen Kern des Menschen) und viele weitere interessante Informationen. Weiterhin befinden sich ein ordentliches 20-minütiges Making Of, ein Musikvideo und kurze Aufnahmen der japanischen Premierenfeier und des Filmfests von Venedig auf der DVD. Bei allen Features gibt es deutsche Untertitel.
Fazit
"Vital" ist sicherlich kein Film für die breite Masse, wird aber dennoch seine Fans finden. Wer sich nicht an dem intensiven und ruhigen Regiestil Tsukamotos stört, wird hier mit einem fesselnden und philosophischen Film belohnt, der die Bedeutung der Erinnerung aufzuzeigen versucht. Eine Reise durch den Menschen zur Natur und zurück, die letzten Endes, auf Grund der Thematik und des Stils ein ungutes Gefühl im Zuschauer zurücklässt. Wer sich gerne auch mal über die Filmdauer hinaus mit einem Film beschäftigt und dem asiatischen Kino nicht abgeneigt ist, sollte hier unbedingt einen Blick riskieren.
- Redakteur:
- Martin Przegendza
"Wenn du ein paar Jahre nach deinem Tod noch mal einen Moment aus deinem Leben erleben könntest – welchen würdest du wählen?"
Bei einem Autounfall hat der Medizinstudent Hiroshi sein biographisches Gedächtnis verloren. Auch seine Freundin Ryôko, die dabei ums Leben gekommen ist, wurde aus seiner Erinnerung gelöscht. Um sein Gedächtnis wiederzuerlangen, stürzt Hiroshi sich in die Anatomievorlesungen und lernt wie besessen. Seine anatomischen Zeichnungen gleichen denen Leonardo da Vincis, jedoch verzieht er keine Mine. Das bleibt auch so, als sich eine Kommilitonin für ihn interessiert. Als die beiden eine Leiche sezieren, kehren Hiroshis Erinnerungen langsam zurück – denn der Leichnam ist seine tote Freundin. Geplagt von Déjà-vu-Erlebnissen, distanziert sich der depressive Hiroshi noch mehr von seinen Mitschülern. Zunächst kehren die Erinnerungen an das gemeinsame Liebesspiel zurück, das eher extremen Würgespielen glich. Dann werden die Tagträume bunter und Ryôko tanzt extatisch vor ihm, ehe sie sich zum Liebesspiel vereinen.
Hiroshi wird zunehmend von der Frage getrieben, wie seine tote Freundin auf den Seziertisch kommt. Seine Suche nach Antworten mündet in immer morbideren Szenen, in denen er ausgiebig und wortlos den Leichnam mustert. Doch mit zunehmend morbider Stimmung häufen sich auch die Déjà-vus. Die düstere Gegenwart und die glücklichere Vergangenheit vermischen sich fortwährend zu einer Operette bizarrer Bilder: Hiroshis Realität spielt sich fast ausschließlich in dem düsteren Anatomie-Keller oder in seiner heruntergekommenen Studentenbude ab. In seinen Erinnerungen sieht er Ryôko jedoch zumeist an einem sonnigen Strand und blüht zumindest dann auf. Ansonsten brilliert der langhaarige Schauspiel-Star Tadanobu Asano in einer wortkargen Rolle. Wie er – ohne Mundschutz – wortkarg in Nahaufnahme an der Leiche werkelt, jagt den Zuschauern regelmäßig einen Schauer über den Rücken.
Regisseur Shinya Tsukamoto schafft mit Liebe zum Detail einen düsteren Film, der aber auch poetische Lichtblicke enthält. Weiß das Publikum anfangs noch nicht so recht, was es von der langatmigen, morbiden Bilderflut halten soll, so steuert es nach und nach auf die finale Frage zu:
"Wenn du ein paar Jahre nach deinem Tod noch mal einen Moment aus deinem Leben erleben könntest – welchen würdest du wählen?"
- Redakteur:
- Carsten Praeg