Winterkinder - Die schweigende Generation
- Regie:
- Jens Schanze
- Jahr:
- 2005
- Genre:
- Dokumentarfilm
- Land:
- Deutschland
1 Review(s)
30.08.2006 | 20:11Hintergrund
Über 60 Jahre sind seit dem Kriegsende und der kapitalen Niederlage Deutschlands unter Adolf Hitler vergangen. Eine lange Zeit, in der die Öffentlichkeit den Ballast der Vergangenheit abgeworfen zu haben scheint. Die Kindergeneration hat sich seit den 60-er Jahren mit der Schuldfrage auseinandergesetzt, das Thema abgehakt. 2005 wagte endlich die Enkelgeneration Fragen zu Stellen. War mein Großvater ein Nazi?
Handlung
Jens Schanze, Autor und Regisseur, dokumentiert in "Winterkinder" die schmerzhafte Konfrontation seiner Eltern, mit ihrer eigenen Vergangenheit. Im Mittelpunkt steht der Vater mütterlicherseits, der bereits 1954 bei einem Autounfall verstarb. Ohne ihn je persönlich gekannt zu haben, hinterfragt die Enkelgeneration das Wesen des Großvaters und seine Nazivergangenheit. 60 Jahre schwieg die Mutter (Jahrgang 1933), die sich jetzt mit dem wahren Bild ihres Vaters konfrontiert sieht. Viele Wunden der Vergangenheit werden aufgerissen, damit sie endlich heilen können. In Mitten der Naziideologie und der Vaterliebe durchbricht der Enkel Jens das Schweigen zwischen den Generationen.
Kritik
In unzähligen Geschichtsstunden haben sich Schüler schon mit dem Dritten Reich auseinandergesetzt. Truppenbewegungen wurden verfolgt, historische Schlachten betrachtet und auch das dunkle Kapitel des Holocausts wurde intensiv behandelt. Wer im Unterricht nicht aufgepasst hat, bekam seine Lehrstunde in Filmen wie "Schindlers Liste", "Der Pianist" oder "Der Untergang". Dabei lag das Hauptaugenmerk immer auf zentralen historischen Figuren oder einer kleinen Gruppe von Leuten und deren Schicksal. "Winterkinder" zeigt die Retrospektive einer Generation, die unter Tätern aufgewachsen ist und seitdem schweigt. Den Rückblick unserer Eltern auf ihre Mütter und Väter.
Jens Schanze inszeniert diesen Prozess in einem langsamen, intimen und intensiven Familienporträt, dessen Hauptfigur seine eigene Mutter ist. 1933 geboren und mit elf Jahren aus dem Heimatort Neurode (heute Nowa Ruda in Polen) geflohen, spricht die Mutter des Regisseurs und Autors über ihre Jugend und ihre Sicht des eigenen Vaters. „Er war ein guter Vater“, heißt es dort. Fürsorglich, mit großer Liebe für seine Familie, der an Feiertagen gerne Kasperletheater für die Kinder gespielt hat. Doch wie die Recherchen des Enkels ergaben, hatte der Großvater noch eine andere Seite - die des Vollblut-Nazis. Bereits 1933 in die SA eingetreten und als Ortsschulungsleiter tätig, hielt das NSDAP-Mitglied brennende Reden auf den Führer und den definitiven Endsieg. Antisemitismus und ungebrochene Treue zum Deutschtum zogen sich wie ein roter Faden durch seine Reden. "War Großvater ein Nazi?", fragt Jens seine Mutter. Nach einer kurzen Pause antwortet sie: "Wenn, würde ich Nationalsozialist sagen". Ihre Stimme klingt dünn, schüchtern und unentschlossen. Kein Wort zu den Gräueltaten der NS, kein Wort der Entschuldigung. „Er war ein guter Vater“.
Neben der Mutter kommen auch Schanzes drei Schwestern zu Wort. Ihre Aussagen zeigen die Konsequenzen des Schweigens auf, das zerrüttete Familienverhältnis, die „Lebensangst“, wie es Kerstin Schanze nennt. Diese kurzen Einspieler offenbaren die Identitätsprobleme der Familie, das Vakuum um die nicht abgeschlossene Vergangenheit. „Seit ich zurückdenken kann, hab’ ich Familienfeiern gehasst, weil ich instinktiv immer gespürt habe, es kann jederzeit in irgendeiner Weise zum Eklat kommen“, sagt Schwester Andrea. Im Verlauf des Films besuchen Jens und seine Mutter das KZ Groß-Rosen. Auch hier schweigt die Mutter größtenteils, versucht durch Stille den unangenehmen Fragen auszuweichen. Später sagt sie: „Natürlich möchte ich glauben, dass meine Eltern nicht wussten, dass hier so ein Lager war. Aber dazu kann ich nichts sagen. Ich weiß es nicht.“
Genau dieser Ton veranlasste Schanze 2004 "Winterkinder" als seinen Diplomfilm an der Filmhochschule München zu drehen. Laut einer Emnid-Umfrage glaubten 49% der Deutschen, dass ihre Vorfahren dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber standen. Wie sich im Film herausstellt, hatte die NSDAP über 10 Millionen Mitglieder. Erst zur Mitte des Films beginnt die Mutter die Tür zur Vergangenheit weit zu öffnen, der Besuch der alten Heimat Neurode ist der Anlass. Die emotionalen Bilder des Wiedersehens der alten Wohnung, die Zugfahrten durch das Eulengebirge - langsam bröckelt die kalte, verschlossene Fassade des Schweigens. Der traumatische Einfluss der Flucht auf ihr Leben und das ihrer Familie wird Mutter Schanze langsam bewusst. Das Blatt scheint sich zu wenden und doch bleibt die Skepsis.
Immer wieder hört man eine Stimme aus dem Off, die dem Zuschauer Briefe des Großvaters vorliest. Immer wieder hört man Zeitungsauszüge seiner Hassreden. Der Unbekannte wird greifbar... „Er war ein guter Vater“. Am Ende sitzt die gesamte Familie zusammen am Tisch, schaut eine Rohfassung der Dokumentation. Die Mutter wirkt erleichtert. Die Vergangenheit scheint bewältigt. Die Mutter fragt, ob das Publikum einen so intimen Film verstehen könne - die Nachfahren der 10 Millionen NSDAP-Mitglieder werden es beantworten können…
Die DVD
Das Bild ist gut, könnte aber in allen Bereichen besser sein. Ein leichtes Rauschen und ein generell zu hoher Kontrast sind aber nicht optimal.
Da es sich um eine echte Dokumentation handelt (im Gegensatz zu Michael Moores reißerischen Werken), sollte man keine großen Ansprüche an den Ton stellen. Der DD2.0 Ton ist ok, die Sprachverständlichkeit sehr gut.
Erst die Extras sorgen dafür, dass die DVD als wirklich gut bezeichnet werden kann. Neben einem sehr informativen Interview mit Regisseur und Autor Jens Schanze, gibt es noch zwei geschnittene Szenen und einen Trailer. Überaus sehenswert!
Fazit
„Eine Spurensuche der Enkel nach dem Großvater, seinen Taten und seinem Wesen - und nach der eigenen Identität“, heißt es auf dem Klappentext der DVD. Mit seiner ruhigen und intimen Dokumentation hat Jens Schanze einen außergewöhnlichen Beitrag zur Bewältigung der jüngeren deutschen Geschichte geleistet, der so sicherlich auf weitere deutsche Familien übertragbar ist. Ein 60-jähriger Phantomscherz, der irgendwo zwischen Vertreibung und unbewältigter Vergangenheit liegt wird erst mit dieser Dokumentation ergründet. War "Winterkinder" für mich als Spätaussiedler, dessen Wurzeln nicht in diesem Land liegen, schon sehr interessant, dürfte der Film gerade für hiesige Menschen ein außerordentlich intensives Erlebnis darstellen.
Absolute Empfehlung!!!
- Redakteur:
- Martin Przegendza