EP-Euphorie (Teil 2): Die besten EPs der letzten zehn Jahre

07.11.2025 | 18:15

Die EP-Euphorie geht in die nächste Runde. Dieses Mal geht es um die besten EPs der letzten zehn Jahre.

Nachdem wir euch im ersten Teil des EP-Specials die Herzens-EPs der Redaktion vorgestellt haben, behandeln wir in diesem Artikel die besten EPs der letzten zehn Jahre. Schnell war klar, dass es kaum weniger emotional zugehen würde als im ersten Teil.  Drei der ausgewählten EPs gibt es übrigens nur in digitaler Form, was natürlich nichts über ihre Qualität aussagt.

Erneut haben wir euch ein buntes Potpourri an Stilen zusammengestellt. Apropos bunt: Nimmt man einmal unsere leuchtende Nr. 1 aus, haben wir es bei den Artworks mit eher gedeckten Farben beziehungsweise einfarbigen Ausgestaltungen zu tun.

Wir folgen in bewährter Weise erneut der Chronologie. Feuer frei, Stephan!

 

1. BLACK SPACE RIDERS - "Beyond Refugeeum" (2016)

Ich erhebe an dieser Stelle nicht den Anspruch zu behaupten, dass "Beyond Refugeeum" die beste EP der vergangenen zehn Jahre ist  dafür bin ich auf diesem Gebiet wahrscheinlich auch zu unbewandert. Aber da BLACK SPACE RIDERS aus Münster eine Band ist, die mich durch ihren unkonventionellen Stil, den sie wild zusammenmixt aus ganz unterschiedlichen Stilelementen, schon immer fasziniert hat, und da diese EP doch weit mehr ist als ein bloßer Lückenfüller zwischen zwei  Full-length-Alben, verliere ich folgend nun gern ein paar Worte über das gute Stück und die sechs Songs, die sich darauf tummeln.

Der vorangegangene Longplayer "Refugeeum" (übrigens ein Phantasiewort, das es so im Englischen gar nicht gibt) war ein Album, das die Band von einer Seite zeigte, die doch überwiegend getragen, repetitiv und manchmal geradezu relaxt rüberkommt (die typischen ruppigen Ausbrüche gibt es zwar trotzdem, zum Beispiel in 'Universal Bloodlines' oder dem fantastischen Longtrack 'Run To The Plains', aber insgesamt eben doch nicht ganz so präsent). Beim Songwriting waren dabei auch Nummern entstanden, die aus Sicht der Band nicht auf dieses Album und seinen Flow passten, und das kann man verstehen. Und bevor man diese Stücke ganz beerdigte, hängte man ein Jahr später einfach eine Reprise zu "Refugeeum" als EP an, auf der sich eben vier Songs aus dieser Phase wiederfinden. Komplettiert wird das Ganze von zwei Remixes, doch dazu später mehr.

Nun habe ich den Charakter von "Refugeeum" bereits angedeutet und somit ist klar, dass "Beyond Refugeeum" sich davon einigermaßen abhebt. Auch hier gilt wieder wie so oft bei dieser Band, dass mir die härteren und vor allem schnelleren Passagen im BLACK SPACE RIDERS-Kosmos besser gefallen, daher finde ich hier allerlei wunderbares Ohrenfutter aus der Feder des Münsteraner Vollblutmusikerkollektivs.

Und ganz so als wollte die Band zunächst an "Refugeeum" anschließen, um dann direkt von dem Album wegzuführen, beginnt die EP mit dem zunächst chilligen Instrumental 'Willkommen', das man tatsächlich direkt an den letzten Song des Vorgängers andocken könnte. Doch dauert es nur zwei, drei Minuten und es wird offenbar, dass auch ein vermeintlich psychedelischer Jam sehr schnell in eine wilde und groovige Space-Rock-Abfahrt münden kann, die auch ohne Gesang packen kann. Nach diesem Auftakt fräst sich 'Freedom At First Sight' noch unerbittlicher ins Hirn  ein fetziger Ritt mit wunderbarem Gitarrenpart zum Ende hin. Toller Song, aber es kommt noch besser! Später, erst einmal begibt man sich ins 'Droneland', das in völligem Gegensatz zum schnellen Geboller zuvor zunächst Ambient-Klänge in den Äther schießt, bevor das Ganze immer wilder und ruppiger wird und zu guter Letzt aber doch etwas unspektakulär ausklingt. Und nun aber: 'Starglue Sniffer' ist, einmal in Schwung gekommen  Geduld, Leute!  so unfassbar mitreißend und tanzbar, dass es einem die Schuhe auszieht. Ein Riff für die Ewigkeit, das  einmal gehört  einfach im Kopf verbleibt, nicht mehr und nicht weniger.

Verbleiben noch die beiden Bonustracks. 'VRTX RMX' fällt dabei jedoch als Remix des "Refugeeum"-Openers 'Vortex Sun' irgendwie aus dem Rahmen mit diesem elektronischen Drone-/TripHop-Gedöns und man kann den tollen Originalsong darin auch gar nicht mehr wiedererkennen  es wirkt schlicht deplatziert und überflüssig. 'Gravitation' hingegen ist ein absolutes Highlight auf diesem 6-Tracker, und gefällt mir dabei durch das noch energetischere und treibendere "Upgrade" im Disco-Tanzschuppen-Stil sogar besser als im Original 'Give Gravitation To The People' auf dem Vor-Vorgänger "D:REI" (2014)  eine Scheibe übrigens, die ganz im Gegensatz zu "Refugeeum" wilden Alternative Rock bietet, dem aber zu diesem Zeitpunkt der musikalischen Entwicklung der BLACK SPACE RIDERS noch so ein bisschen das Charisma und dieses eigene Flair fehlt, das die Band in den Folgejahren und auch den weiteren Veröffentlichungen so einzigartig entwickelte und ja, spätestens mit dem "Amoretum"-Doppelpack perfektionierte.

Denn musikalisch ging es ab dem nachfolgenden Longplayer bei den BLACK SPACE RIDERS so richtig ab; beide Teile von "Amoretum", aber auch das bis dato letzte Werk "We Have Been Here Before" (2022) strahlen deutlich mehr Vielfalt und auch Verrückheit als "Refugeeum" aus, und obwohl "Beyond Refugeeum" ja im Grunde eine Reprise zu seinem Vorgänger ist, zeigt es bereits viel von der absoluten Klasse und Einzigartigkeit, die sich auf den Nachfolgern manifestieren sollte. Nicht zuletzt deshalb, weil sich auf "Beyond Refugeeum" mit 'Freedom At First Sight', 'Starglue Sniffer' und 'Gravitation' drei Weltklassetracks befinden.

[Stephan Voigtländer]

 

2. WATCHTOWER - Concepts Of Math: Book One (2016)

Wer unsere Seite ein bisschen länger und intensiver verfolgt, wird  wissen, dass es ein paar wenige Bands gibt, die in meiner Gunst sehr hoch stehen. Eine davon hört auf den Namen WATCHTOWER! Ich muss jetzt hier nicht beamtischen Faktengulasch über die Historie dieser bahnbrechenden Band niederschreiben, denn diese ist im Netz und auch auf unseren Seiten ausreichend dokumentiert. In dieser wundervollen Reihe hier geht es um Herzblut-Angelegenheiten. Da ist für derlei sprödes Geschreibsel wenig Platz. Mit heftig rasendem Herzen habe ich die Ruhe-Phase der Band beobachtet, immer hoffend, es würde doch irgendwann das kleine Wunder geschehen und das seit dem Stillstand zu Beginn der 90er Jahre angekündigte, dritte Album "Mathematics" würde finalisiert werden. Sporadische Einzelauftritte befeuern immer wieder diese Hoffnung und das persönliche Treffen auf dem legendären "Bang Your Head"-Festival anno 2000 lässt einen minimalen Hoffnungsschimmer übrig. Als dann im Jahr 2010 ein neuer Song namens 'The Size Of Matter' als digitale Single veröffentlicht wird, brauche ich eine Woche lang Beruhigungsmittel, denn dieser Song beinhaltet alles, was ich an dieser Band so sehr liebe: Primzahl-Takte, die obligatorisch verrückten Gitarrenfiguren von Ron, Bassgezwirbel und der Gesang, den ich seit dem Erstanhören eines HADES-Demos im Jahr 1986 so schätze! Allerdings scheint für meine verqueren Gehörgänge ein Element hinzugekommen zu sein, welches ich vorher so nicht wahrgenommen habe: Hooklines! Diese Nummer hat tatsächlich bei aller Verrücktheit so etwas wie Eingängigkeit. Sicher, dies werden die meisten Zuhörer deutlich anders empfinden, aber für mich ist 'The Size Of Matter' der AOR-Song in der WATCHTOWER-Diskographie. Call me weirdo! Weitere fünf lange Jahre ziehen ins Land, bis drei weitere Songs ins Netz gestellt werden.

Erst 2016 soll es dann soweit sein. Alle Nummern, plus eines Intros, werden physisch unter dem Namen "Concepts Of Math: Book One" veröffentlicht. Zum ersten Mal in meinem Leben kaufe ich einen Download parallel zum Vinyl und höre diese Nummern, bis sogar meine Frau diese allein durch mein Mitsingen unterm Kopfhörer wiedererkennen kann. Großes Lob an sie, denn ich kann gar nicht singen. Die drei anderen Songs bieten dann in aller Primzahl-Genialität exakt das, was man als Fan der Band erhofft hatte. Harsche Taktwechsel, schrillen Gesang und nur wenige Passagen, die länger als 15 Sekunden geradeaus laufen. Alles eingebettet in einen zeitgemäßen, aber nicht atmungsbefreiten Klang und teils mit überraschend harter Rhythmik. Gerade die krass abgestoppten Momente werden ungeübte Ohren in Verzweiflung treiben, meine Lauscher jubilieren.

Inzwischen sind erneut neun Jahre vergangen, die Band tourt gerade mit Original-Sänger Jason McMaster zum 40. Jubiläum der "Energetic Disassembly" und es gibt Gerüchte… Dazu vielleicht demnächst mehr auf diesen Seiten! Stay tuned!

[Holger Andrae]

 

3. SOILWORK - A Whisp Of The Atlantic (2020)

Als ich dank meiner Liebe zu THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA auch SOILWORK wieder lieben gelernt habe  das war spätestens mit "Verkligheten" wieder der Fall  veröffentlichte das schwedische Melo-Death-Ungetüm um Tausendsassa Speed eine EP, deren Klasse ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können. Als erster Appetizer wurde ein knapp halbminütiges Snippet von 'The Nothingless And The Devil' veröffentlicht und schon da wusste ich, dass Großes auf uns zukommen würde. Und dann erschien am 4. Dezember 2020 dieses EP-Monster namens "A Whisp Of The Atlantic"  allein der Gedanke erzeugt noch immer eine meterdicke Gänsehaut. Doch warum?

Diese EP ist zeitlos! Ein zeitloses Meisterwerk  gegossen in eine knapp 37-minütige Spielzeit, die vor Hingabe, Epik und Melancholie einerseits, Härte melodisch-tödlichen Ausmaßes, Biss und Schlagfertigkeit andererseits nur so trieft. Ich will ehrlich sein, die Songs habe ich schon in meiner Rezension einst in den Himmel gelobt, und selbst fast fünf Jahre später ist bereits erwähnter Gassenhauer, 'Desperado' und 'Death Diviner' nicht mehr von meiner Playliste hinwegzudenken. Und der Rest: Mit 'Feverish'  ein nostalgischer Beginn, ein so epischer Bastard aus Blastbeat-Attacken und wehmütiger Melancholie, ein Gesang, der mir in positiver Art und Weise die Tränen in die Augen treibt  schießt SOILWORK noch immer den Vogel ab. Weshalb kein einziger Song dieser zutiefst glanzvollen EP seinen Weg in die Setliste des Schweden-Hammers gefunden hat, wissen wohl nur Björn und Co. selbst. Doch wir geben offen und ehrlich zu, wenn das pompöse und majestätische Titelstück einmal live aufgeführt werden sollte, würden ohnehin alle Dämme brechen. Jeder einzelne dieser fünf Tracks ist ein Hit für die Ewigkeit, nach denen sich jede noch so große Melo-Death-Metal-Band die Finger lecken würde. Artwork, Sound, Songs, Bandchemie  alles passt wie Arsch auf Eimer.

Ich möchte jedoch auch die Zeilen nutzen zu ergründen, wie es folgend weiterging: Mit David Andersson haben SOILWORK und THE NIGHT FLIGHT ORCHESTRA keine zwei Jahre später nicht nur einen so begnadeten und talentierten Songwriter, sondern auch einen unheimlich sympathischen und tollen Menschen verloren. Ob in so mancher Note von "A Whisp Of The Atlantic" dies schon in gewisser Weise absehbar war, wird auf ewig Davids Geheimnis bleiben. Fakt ist jedoch, dass danach mit "Övergivenheten" auf der einen und "Aeromantic II" auf der anderen Seite zwei weitere Überalben folgten, die mich mindestens genauso ergriffen wie vorliegende EP. Doch "A Whisp Of The Atlantic" ist und bleibt auf emotionaler Ebene stets auf der Pole-Position, hat mit dieser EP doch meine Liebe zu Björns Werken melodisch-tödlichen Ausmaßes wieder angefangen. Daher sind diese 36 Minuten und 52 Sekunden die mit Abstand, mit weitem Abstand, beste EP der letzten zehn Jahre, eine Blaupause des melancholischen, melodischen Todesstahls, die sich in ihrer rockenden, epischen, wuchtigen, tanzbaren und ergreifenden Art und Weise tief in mein Herz gespielt hat.

[Marcel Rapp]

 

4. NACHTRAUNER - MMXX (2021)

Der alte Goethe wusste es schon: "Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?" Diese Frage steht über der kleinen Liebeserklärung an eine Münchner Band. NACHTRAUNER flackerte kurz auf und verging leider ebenso schnell wieder. Was bleibt, ist eine EP mit dem lateinischen Jahreszahl-Titel "MMXX" (veröffentlicht am 20.  August 2021, leider nur digital). Sechs Songs, alle auf Deutsch gesungen, verbinden Blackened Heavy Metal, Doom, ein bisschen Prog – und jede Menge Emotion.

Gleich der Opener 'Nachtrauner' zieht uns mit eindringlichem Riffing medias in res. Angedeutete Keyboards, drückendes Midtempo und ein cooles Solo vor dem mächtigen Refrain machen den Song zur Hymne. Als er 2018 als Single erschien, verliebte ich mich sofort – und sog bis zur EP-Veröffentlichung alles auf, was aus dem NACHTRAUNER-Lager kam. Hinter dem Projekt stecken zwei Münchner Szene-Bekannte: Bäda (Gesang) und Miche (Gitarre/Bass/Schlagzeug). Gemeinsam erlangten sie mit ihrer Power-Metal-Band NATOR (Hörempfehlung: "My Kingdom Come", 2016) undergroundweite Aufmerksamkeit. Ich kannte sie von gemeinsamen Gigs mit meiner damaligen Band WALDWIND. Man begleitete sich gegenseitig bei den Versuchen, mit der eigenen Musik etwas zu reißen.

Dann kam Corona, und wir alle mussten mit der Situation umgehen. In Vorbereitung auf diesen Artikel erzählte mir Bäda, dass es schon zuvor mit der Stammband NATOR "eh nicht mehr so gut lief" und er und Miche etwas suchten, "um aus der Isolation der Pandemie auszubrechen". So entstand "MMXX" "ziemlich spontan und sporadisch" – aufgenommen zu Hause oder im Proberaum. "So ist die EP nach und nach entstanden", sagt er. Den stückweisen Entstehungsprozess hört man der Musik nicht an – die emotionale Lage aber sehr wohl.

Bäda hat ohnehin eine einzigartige Stimme. Er transportiert Melancholie und Wehmut, ohne in den heftigeren, extremen Black-Passagen an Power zu verlieren. Besonders eindrucksvoll ist das in 'Maschinenmensch' – einer Abrechnung mit der ressourcenfressenden modernen Gesellschaft: "Maschinenmensch, wir zerfallen / Maschinenmensch, Tränen zu Staub … Maschinenmensch, Gefühle sind Stahl". Der Kontrast zwischen tiefer Traurigkeit und wuchtigem Metal fasziniert.

Inhaltlich passen Songs und Texte wunderbar zusammen. Sie sind geprägt von "Krieg, Isolation, Tod, Krankheit und Zerstörung", erzählt Bäda – "aber auch von dem Versuch, Altes hinter sich zu lassen und einen Neuanfang zu wagen". Die deutsche Sprache war für ihn selbstverständlich: "Ich kann mich lyrisch auf Deutsch viel besser ausdrücken. Es kommt aus dem Herzen, und die deutsche Sprache hat in der Musik einen ganz besonderen Klang."

Dass NACHTRAUNER auch ruhiger kann, zeigt 'Wir brennen': balladesk beginnend, dann Fahrt aufnehmend, am Schluss mit überraschendem Twist. Im Songwriting zeigt sich ein proggiger Anteil – längere Kompositionen, ohne wirkliches Abdriften ins Prog-Fahrwasser. Die Lust auf Exploration und experimentelles Ausprobieren motiviert Band und Hörer. Die sechs Songs (27 Minuten Gesamtspielzeit) sind hörbar aus einer Feder, bringen aber eine beachtliche Bandbreite mit. Das geht zu großen Teilen auf Miches Konto: Er ist nicht nur ein großartiger Gitarrist, sondern auch ein begnadeter Songwriter.

"MMXX" ist meine Lieblings‑EP der vergangenen zehn Jahre. Mit keiner anderen –mal abseits von der eigenen ANGSTKVLT-EP –  habe ich mehr Zeit verbracht. Das ist subjektiv, aber ehrlich. Das Format bietet einer Band wie NACHTRAUNER die Möglichkeit, Musik zu veröffentlichen, ohne ein ganzes Album stemmen zu müssen. Leider blieb es bei dieser einen EP. Dabei hätte es anders laufen können: "Wir hatten tatsächlich eine Zeit lang überlegt, das Material auch auf die Bühne zu bringen", sagt Bäda. Es gab sogar Proben – doch etwas Konkretes kam nicht heraus. Wer sich nach der EP weiter mit dem Schaffen der Musiker beschäftigen möchte, sollte Bädas Band EWIGEIS (Black Metal) und Miches Band DAKOTA NEMATODE (Alternative/Prog Metal) anchecken.

Was bleibt? Bäda fasst es zusammen: "Wir kamen mit NACHTRAUNER gut durch eine schwierige Zeit und haben wieder Aufwind für Neues bekommen." Ein Spirit, der auch 2025 noch gut nachhallt – und funktioniert. Ihr findet die EP auf den gängigen Streaming-Portalen.

[Julian Rohrer]

 

5. SPIRITBOX - The Fear Of Fear (2023)

Wenn wir über die besten EPs der letzten zehn Jahre sprechen, dann darf "The Fear Of Fear" von den Kanadiern SPIRITBOX nicht unerwähnt bleiben. Schon mit dem Debütalbum "Eternal Blue" hatten Courtney LaPlante und ihre Mitstreiter gezeigt, dass sie ein absolutes Powerhouse im Modern-Metal-Sektor werden könnten, doch für mich persönlich platzte der Knoten so richtig auf dieser Kurzrille, die uns ingesamt sechs Tracks präsentiert. Die Faszination der EP liegt dabei primär darin begründet, dass der Vierer den auf "Eternal Blue" etablierten Sound nimmt und ihn praktisch in jeder Hinsicht auf die Spitze treibt. Wenn es brutal und dissonant wird, dann geht man hier so richtig in die Vollen, sodass das Hörerlebnis fast schon unangenehm wird, während gleichzeitig auch die poppigen Momente bisher noch nicht so prägnant waren wie auf dieser Kurzrille.

Nehmen wir uns doch nur einmal den Opener 'Cellar Door' zur Brust, der definitiv die abgedreht-harte Seite des Bandsounds zur Schau stellt und dabei munter Djent mit den verrückten Leads und Sound-Effekten von Kollegen wie KORN zu einem wuchtig und gleichzeitig doch melancholischen Gesamtsound vereint. Courtney setzt mit ihren markerschütternden Growls dem Ganzen schließlich die Krone auf und veredelt einen Song, der perfekt zeigt, wie kraftvoll und spannend moderner Metal sein kann, wenn sich Bands nicht auf die immer gleichen Formeln von harter Strophe und poppigem Refrain stützen. Dass die Kanadier aber auch waschechte Radiohits schreiben können, zeigen sie direkt mit dem folgenden 'Jaded', das einfach ein Song zum Niederknien ist. Courtney singt unfassbar eingängig, ohne je in Kitsch-Gefilde zu driften, und serviert einen Refrain, der einem die Entenpelle auf den ganzen Körper treibt. Dazu kommt das unheimlich kreative Riff von Gitarrist Mike Stringer, das groovig und vertrackt zugleich ist und den Track schlussendlich zum klaren Höhepunkt auf "The Fear Of Fear" macht.

Die Ecken des Bandsounds hat man damit nach zwei Songs schon bestens ausgeleuchtet und verbringt den Rest der kompakten Spielzeit dann damit, einen Volltreffer nach dem anderen rauszuhauen. 'Angel Eyes' etwa ist entgegengesetzt zum Titel keine melodische Nummer, sondern ein weiterer brutal groovender Riff-Anschlag, der die Nackenmuskeln bis zur Schmerzgrenze belastet, während 'Ultraviolet' mit vermehrten elektronischen Spielereien für einen weiteren Ohrwurm sorgt. 'The Void' bringt dagegen die beiden Extreme des Bandsounds vielleicht am besten auf einen gemeinsamen Nenner und ist mein zweiter Liebling auf einer Scheibe, die keinerlei Durchhänger im Gepäck hat und durchweg bekannte Schemata im Songwriting vermeidet, was ebenfalls zur Einzigartigkeit von SPIRITBOX beiträgt.

Im Ganzen betrachtet ist "The Fear Of Fear" dann auch wahrscheinlich ein perfektes Beispiel dafür, wie man eine EP richtig umsetzt, denn zu keiner Zeit wirkt das hier wie ein liebloses Zwischenspiel zwischen zwei regulären Alben, als das EPs ja leider gerne gesehen und auch genutzt werden. Nein, "The Fear Of Fear" hat einen klar definierten Spannungsbogen und ist gleichzeitig kompakt genug, um zu keiner Zeit auch nur im entferntesten Längen aufkommen zu lassen. Gleichzeitig gibt es aber eben auch genügend Material zu hören, um im Sound der Kanadier abtauchen zu können und eben nicht mit dem Bauchgefühl zurückzubleiben, hier nur eine Vorspeise genossen zu haben. Einfach rundum stark!

[Tobias Dahs]

6. ORBIT CULTURE - The Forgotten (2023)

Da Kollege Tobias Dahs mit SPRIRITBOX und "The Fear Of Fear" schon meinen Favoriten gewählt hat, wechsle ich einfach zu meinem zweiten Platz: ORBIT CULTURE mit "The Forgotten". Als ORBIT CULTURE die EP veröffentlicht hat, war ich voll im Band-Hype. Dies war im Jahr 2023, kurz nach dem Album "Descent". Dass es zwei Veröffentlichungen direkt nacheinander gab, hatte für die Schweden einen Grund. Sie hielten die Songs auf dem Longplayer teilweise für zu komplex, um sie live aufzuführen und wollten noch den ein oder anderen eingängigen Smasher für ihre erste Headliner-Tour in Europa unters Volk werfen. Das hat auch hervorragend geklappt.

Der Opener 'While We Serve' ist ein schweres Pfund aus Melodic Death Metal und Groove Metal, das vor Kraft nur so strotzt. Bei aller gewollt komponierten Livetauglichkeit im Refrain, zeigt der Track im Mittel die ganze Kunst der Band samt deren progressiver Ansätze. Genau so einen Song wollte ORBIT CULTURE mit 'Bloodhound' auf dem neuen Album "Death Above Live" haben. Während es dort in die Hose gegangen ist, sind sie hier nahe an der Perfektion.

Natürlich schlägt bei diesem EP-Konzept das folgende 'The Upheaval' ähnliche Klänge an, besitzt trotz seiner stimmungsvollen Düsternis jedoch einen gewichtigen Unterschied: den Klargesang. Dieser steht in typischer ORBIT CULTURE-Symbiose zu den Growls sowie zur Double-Bass, die in diesen melodischen Momenten mal kurz schweigen muss. Es ist ein Wechselspiel, das das Quartett perfekt beherrscht und hier auf den Punkt bringt. Zusätzlich darf natürlich für die Aufführung vor Publikum der obligatorische Breakdown nicht fehlen.

Komplett ohne Komplexität kommt ORBIT CULTURE selbst bei dem Versuch, einfach strukturierte Songs zu bieten, am Ende doch nicht aus. 'Sound Of The Bell' durchläuft in seinen mehr als acht Minuten mehrere Phasen: vom ruhig-atmosphärischen Beginn, über die anschließenden typischen Trademarks der Band bis hin zum Bruch nach über vier Minuten. Dieser Bruch sorgt für Ruhe und ist das kurze, ruhige Auge des Sturms. Denn dieser bricht im folgenden dreiminütigen Instrumentalteil heraus. Die Musiker entfalten eine Wucht, dass mir das Herz aufgeht.

Rein kompositorisch betrachtet kann ORBIT CULTURE natürlich mehr als die Gruppe auf dieser EP zeigt. Das wird auf den beiden vorhergehenden Alben wie "Descent" oder "Nija" deutlich. Doch dafür ist "The Forgotten" nicht gedacht. Es geht um kurze, groovige Melodic-Death-Smasher. Diesen Auftrag erfüllt die Band hervorragend. Die EP ist ideal, um mal kurz den Kopf freizubekommen und findet daher bei mir immer wieder den Weg in die digitale Playlist. Denn physisch ist sie leider bisher nicht erschienen.

[Dominik Feldmann]

 

7. WRITHEN HILT - Ancient Sword Cult (2024)

Bei dieser Aufgabenstellung, die beste oder vielleicht auch bemerkenswerteste EP der letzten zehn Jahre zu küren, kamen mir auf Anhieb drei mögliche Kandidaten in den Sinn: "Grey Maiden" von GATEKEEPER, "Cold Front" von FREEWAYS und "Ancient Sword Cult" von WRITHEN HILT. Nach einer direkten Konfrontation der drei Werke gewannen die Braunschweiger Epic Metaller dann doch recht schnell die Oberhand, obwohl ich die beiden kanadischen Erzeugnisse auch sehr schätze und immer wieder gerne auf den Plattenteller lege. Aber wie schon im ersten Teil unseres EP-Specials ist es am besten, sich von den Emotionen leiten zu lassen. Und die sind nach wie vor jedes Mal präsent, wenn "Ancient Sword Cult" an die Ohren dringt. Man könnte natürlich einwenden, dass die EP noch keine zwei Jahre alt ist und sich erst im Laufe der Zeit rausstellen werde, ob sie den Test of time bestanden habe. Aber so ein Einwand wäre Unsinn. Was bedeutet schon Zeit im Epic Metal?

Ähnlich ergreifend wie auf "Ancient Sword Cult" musizieren die Vier übrigens auf dem Zwei-Track-Tape "The Iron Sparrow", das auch 2024 veröffentlicht und erst kürzlich wieder aufgelegt wurde. Aber das nur am Rande. Was WRITHEN HILT so einzigartig macht, ist die Fähigkeit, mit relativ einfachen Mitteln – zumindest was die Aufnahmetechnik angeht – eine großartige Atmosphäre zu erzeugen. Wie ich schon in meiner Rezension schrieb, braucht es nur wenige Sekunden, um Feuer und Flamme für diese authentische Interpretation von Epic Metal zu sein. Unsere Redaktion wählte folgerichtig im Jahrespoll 2024 WRITHEN HILT zum Newcomer des Jahres.

Allein der Refrain von 'Death Undone' reicht schon aus, um WRITHEN HILT zur vielleicht größten Hoffnung im Epic Metal zu machen – Hoffnung deshalb, weil das Debütalbum noch aussteht. Aber nicht nur der Chorus von 'Death Undone' ist mitreißend, jeder Ton ist ein Genuss. David Kuris eher zurückgenommener, aber darum nicht weniger effektvoller Gesang ist die Krönung des Ganzen. Beim dann folgenden 'Mountain' müssen wir schon sehr weit nach oben schauen, denn der wunderbare Song schafft es meiner Meinung nach, mit 'Mountains' von MANOWAR gleichzuziehen. Das ist keine kleine Leistung, denn das ist einer der schönsten Tracks der ehemaligen Kings Of Metal. 'Sorcerer's Gate' drückt mehr aufs Tempo, was ein wenig an WARLORD der ganz frühen Zeit erinnert. Auch das eingängige 'To Rival The Sun' ist über längere Strecken etwas schneller als die ersten beiden Glanzstücke und gemahnt ganz kurz fast an Black Metal. Mit dem schönen Instrumental 'Aeolia (Unbreakable Bronze)' klingt "Ancient Sword Cult" aus.        

Mir gefällt übrigens auch, dass alle Bandmitglieder am Songwriting beteiligt sind. Alle Musiker können eigene Ideen beisteuern, was vielleicht auch ein Grund für die einzigartige Atmosphäre ist. Ich habe eine Schwäche für Epic Metal, aber nur wenn der Sound nicht zu poliert ist. Da besteht bei WRITHEN HILT keine Gefahr. Die Jungs wissen, was sich gehört. 

Da Julian in seinem Text schon Goethe zitiert, erlaube ich mir die Freiheit, mich zum Abschluss auf Tacitus zu beziehen, der in seiner ethnografischen Schrift "Germania" bemerkt, dass es unter den Germanen als ehrenvollste Art der Zustimmung gelte, mit den Waffen Lob zu spenden. Da mir aber mein Schwert mit gedrehtem Heft gerade nicht zur Hand ist – es kam ja auch erst spät im 15. Jahrhundert auf –, kann ich es nur in Gedanken gegen den Schild schlagen und "Ancient Sword Cult" auf diesem Wege meine Verehrung bezeigen. Die Waffenspezialisten aus Braunschweig mögen es mir nachsehen.

[Jens Wilkens]

Redakteur:
Jens Wilkens

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