Gruppentherapie: AVATARIUM - "The Girl With The Raven Mask"

28.10.2015 | 00:00

Frauen-Power oder Blümchen-Sex?

Frauen-Power oder Blümchen-Sex? Doom-Samariter oder Szene-Wächter? Meister-Diebe oder Raben-Masken? Pipi in den Augen oder Lächeln im Gesicht? Jean-Annie oder Jennie-Ann Smith? AVATARIUM oder CANDLEMASS? Fragen über Fragen, die sich während dieser Gruppentherapie stellen und sicher nicht immer mit vollem Ernst beantwortet werden. Doch lest selbst!



Nachdem ich AVATARIUM auf dem diesjährigen Summer Breeze sehen durfte und mir die Band viel Freude bereitete, stieg die Spannung und die Vorfreude auf das neue Album stark an. Diese Vorfreude entlädt sich sofort und spontan beim ersten Hören des Openers und Titelsongs. Was für ein Hit! Allein dafür muss das Album ins Regal, bei jedem! Aber die Band hat ihr Pulver noch nicht verschossen und kann noch mehrfach beinahe adäquat nachlegen. Sängerin Jennie-Ann Smith macht mal wieder alles richtig und der doomige Rock trifft weitgehend den richtigen Nerv. Dass nicht alle Lieder so brillant sind, ist verzeihlich, ein Lied wie ‘The Girl With The Raven Mask’ gelingt selbst einem Leif Edling nicht alle Tage. Und da alle Lieder ein zumindest sehr gutes Niveau an den Tag legen, geht der Daumen deutlich hoch für das Zweitwerk.

Note: 8,0/10
[Frank Jaeger]



Hier spricht ein glühender Anhänger der “neuen Frauen-Power”, die ja aktuell ein großes Thema in der Musikpresse ist. Doch richtig auf die Schliche ist man diesem Phänomen meines Erachtens noch nicht gekommen, vieles wird zu oberflächlich betrachtet, oder aber man verheddert sich in verwirrender Szene-Politik.
Und das einfach zauberhafte neue AVATARIUM-Album ist ein wunderbares Beispiel, um darzulegen, was mich so sehr an den Female-Fronted-Metal-Bands aller Spielarten reizt. Mit Jennie-Ann Smith erlebt nämlich ein langjähriger Metal-Hase namens Leif Edling, der mit CANDLEMASS einige hoch geschätzte Alben komponiert hat, einen goldenen Karriere-Herbst. Und warum? Weil er mit der hübschen Dame an der Seite wunderbar mit vielen Szene-Dogmen bricht und sogar noch großen Erfolg damit hat. Wenn ich die letzten CANDLEMASS-Alben höre, riecht das für mich stark nach Konsolidierung des Status, gute Metal-Songs, die nicht anecken. Mit AVATARIUM jedoch begibt er sich auf eine spannende Entdeckungs-Tour, die eben nicht auf "schöngeistigen Schmonzes" (Zitat aus einem Review in der Zeitschrift, die alles sein will, was "die Szene" braucht) verzichtet, eine Tour, die weibliche Anmut mit doom-metallischen wie classic-rockigen Trademarks aus den 70ern vereint. Und dazu bedarf es mehr als Echtheitswahn und "richtige" Haltung in der Szene. Man muss die Musik von Grund auf ganz anders angehen, anders produzieren, mit alten Regeln brechen und ein stückweit auch wagemutig sein, damit man die "neue Frauen-Power" in etwas künstlerisch Gehaltvolles und die Zeiten Überdauerndes ummünzen kann. Leif Edling und sein AVATARIUM-Team scheinen auf "The Girl With The Raven Mask" erkannt zu haben, was ihr wertvollstes Gut ist und wie man das Optimum herausholt, indem man nicht nur eine Lady an die Front stellt, sondern auch der ganzen Musik Weiblichkeit verschafft. Das darf man toll finden oder auch nicht, für mich jedoch ist AVATARIUM genau deswegen jetzt schon mehr wert als es CANDLEMASS oder KRUX oder ABSTRAKT ALGEBRA (alles gute Bands!) je waren. Der Titelsong ist gewiss ein netter Anfang, 'The January Sea', 'Pearl And Coffins', 'Ghostlight' oder 'The Master Thief' jedoch ist Sex pur, nicht nur mich, nicht nur für Männer, nicht nur für Metaller, sondern weit darüber hinaus!

Note: 9,5/10
[Thomas Becker]


Den Jubel meiner Kollegen über das neue Album von AVATARIUM kann ich nicht ganz nachvollziehen, denn für mich bleibt die Band weiterhin eine zweischneidige Angelegenheit. Mit Leif Edling (CANDLEMASS), Markus Jidell (EVERGREY) und Jennie-Ann Smith hat die Truppe gigantisches musikalisches Potential in ihren Reihen, aber so ganz schaffen sie es nicht, dieses Potential auch auf ihren Platten zu verewigen. Schon auf dem selbstbetitelten Debüt hielten sich belanglose und grandiose Songs die Waage, das gleiche Schicksal teilt nun auch das Zweitwerk. Klar gibt es auch hier wieder absolute Highlights wie den grandiosen Titelsong zu entdecken, der von der ersten bis zu letzten Sekunde eine perfekte Verbindung aus Doom und klassischem Hard Rock liefert. Auch Tracks wie das mörderisch groovende 'Run Killer Run' oder das wunderbar psychedelische 'The Master Thief' können auf ganzer Linie überzeugen. Also eigentlich alles im Lot bei AVATARIUM, wenn da nicht diese unerklärlichen Ausfälle wären, die sich gerade in der Mitte der Platte häufen. Insbesondere in den ruhigeren Momenten will hier einfach der Funke nicht so recht überspringen und so plätschert ein großer Teil des Materials einfach dahin, ohne einen wirklich bleibenden Eindruck beim Hörer zu hinterlassen. Dementsprechend muss ich auch Thomas Aussage vehement widersprechen, in der er AVATARIUM einen höherer Stellenwert als CANDLEMASS attestiert. Freunden des Doom Metal wird "The Girl With The Raven Mask" sicher in Teilen Freunden-Tränen in die Augen treiben, das Album wird aber nie die Relevanz von etwa "Ancient Dreams" oder "Epicus Doomicus Metallicus" erlangen. Aber vielleicht gelingt dies ja beim nächsten Longplayer.

Note: 7,0/10

[Tobias Dahs]

In einer Sache muss ich Frank und Tobias uneingeschränkt zustimmen. Der Opener und Titel-Track des Albums ist wirklich ein absoluter Kracher vor dem Herrn. Sicher einer der Songs des Jahres. Und damit natürlich eine Nummer, die ordentlich Appetit auf mehr macht. Tja, und dann? Dann beginnt das Album mehr und mehr, unspektakulär vor sich hin zu plätschern (also maximal Blümchen-Sex, lieber Thomas). Die Songs sind zerfahren, die fesselnde Prägnanz, die den Auftakt auszeichnet, ist größtenteils dahin. Gesang, Melodien und Riffing bilden nur noch selten eine solch homogene Einheit. Das ist mein Haupt-Kritikpunkt, dass aus den vielen guten Ansätzen nicht mehr herausgeholt wurde. Speziell der Gitarrensound gefällt mir nämlich ausnehmend gut und toll singen kann die Frontfrau auch ohne jeden Zweifel, aber das allein reicht eben nicht. Ich bin also nicht der Ansicht, dass man der als "neue Frauenpower" zusammengefassten Entwicklung in irgendeiner Form eine Daseinsberechtigung oder auch nur das Echtheits- oder Ehrlichkeits-Siegel absprechen könnte. Tatsächlich kann ich da nicht mal eine "Bewegung" ausmachen, weil ich in solchen im Grunde abartigen Kategorien wie male- und female-fronted eh nicht denke. Nur ist das überhaupt nicht der Punkt bei AVATARIUM, außer vielleicht für irgendwelche ewiggestrigen Traditions-Metaller oder gar Szene-Wächter, die Qualität schon an Besetzung oder äußerem Erscheinungsbild zu erkennen meinen. Insofern: recht gesprochen, Thomas.

Ich muss aber auch Tobias in einem Punkt widersprechen, denn dass dieses Album Doom-Metal-Freunden Pipi ins Äuglein drückt, kann ich mir kaum vorstellen (auch nicht "in Teilen"), denn die hübschen, lebensbejahenden Melodien gehen in eine komplett andere Richtung als das, was ich mir unter Doom vorstelle. Und so ist es auch mit dem Album: Ganz hübsch, ganz nett ist es geworden, aber ohne den ganz großen Kick. Eingedenk des tollen Titelsongs (auch das formidable, verspielte und fast schon psychedelische 'Pearls And Coffins' hat unbestreitbar seinen Reiz) springen für mich hier am Ende grad so sieben Punkte raus, und dabei - da bin ich ganz bei Tobias - wurde leider offenbar eine Menge Potenzial vers(ch)enkt.

Note: 7,0/10
[Stephan Voigtländer]

Kameraden, was ihr hier alles vom Stapel lasst, das verwirrt mich jetzt ganz massiv, auch wenn wir letztlich in der Bewertung dieses Albums gar nicht so weit auseinander sein mögen. Da führt ihr Diskussionen über Szene-Wächterei und Ewig-Gestrigkeit, wo AVATARIUM damit doch letztlich gar nichts zu tun hat, und zwar weder als Bestätigung noch als Antithese. An anderer Stelle ist von quasi pan-sexuellen Wahrnehmungen und der Musik gewordenen Weiblichkeit die Rede, und zu guter Letzt wird das Album auch noch vor den CANDLEMASS-Meisterwerken einsortiert. Ein wenig brummt mir da schon der Kopf, denn erstens lässt sich nämlich mal gar nichts auf der Welt vor 'Samarithan' einsortieren, und zweitens können wir "The Girl With The Raven Mask" auch einfach ganz ohne szene-politische Erörterungen ganz keusch und zölibatär als das feiern, was es ist, nämlich eine mit Meister Edlings feiner Feder komponierte perfekte Collage aus typisch schwedischem Epic Doom Metal und allerlei dezenten Einflüssen aus der progressiv-psychedelischen Schule der Siebziger, von RAINBOW und URIAH HEEP bis hin zu JEFFERSON AIRPLANE und IRON BUTTERFLY, die wir ja schon vom Spätwerk der Kerzenmesse und von KRUX her hammond-orgelnd kennen. Dazu kommen die von Fabelsängerin Jennie-Ann Smith fein gesponnenen Gesangs-Hooklines, deren Duktus den Stücken bei aller Eingängigkeit auch einen Hauch von intensivem, nachhallendem, nachdenklichem Storytelling in bester Singer/Songwriter-Markanz gibt. Damit spielt AVATARIUM letztlich trotz der nicht zu leugnenden und an sich auch selbstverständlichen stilistischen Nähe zu CANDLEMASS im Oeuvre der Doom-Szene eine sehr eigenständige Rolle, und "The Girl With The Raven Mask" bedient dabei keine gängigen Trends oder Verkaufsschemata, sondern es überzeugt einfach durch brillantes Songwriting und dessen bestechende spielerische und gesangliche Umsetzung. Dass der Titelsong einer der unzweifelhaften Hits des Jahres 2015 sein dürfte, das haben ja bereits alle Vorredner erkannt, und wie Frank schon sagte: Allein der Song rechtfertigt den Kauf des Albums! Die anderen Stücke aber auch, weshalb ich im Ergebnis des geschätzten Herrn Kollegen Beckers Wertung einfach mal unterschreiben und zudem bekennen möchte, dass dieser Doom-Kopf hier durchaus zu Gänsehaut und Freuden-Tränchen im Knopfloch neigt, weil dieses Werk meinen bei aller Schwere und Melancholie doch trotzigen und erhabenen Doom Metal sicherlich mehr repräsentiert als allerlei nihilistische Trauerklos-Lethargie, die unter dem selben Banner segelt.

Note: 9,5/10
[Rüdiger Stehle]

Mehr zu diesem Album:

Review von Nils Macher.
Soundcheck 10/2015

Redakteur:
Thomas Becker

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