Gruppentherapie: KENN NARDI - "Dancing With The Past"

24.01.2015 | 11:25

KENN NARDI ist ANACRUSIS und erobert im ersten Soundcheck des neuen Jahres das Stockerl.

"Dancing With The Past" forderte die Soundchecker. 157 Minuten Musik wollen erst einmal verdaut werden. Und klar drängt sich bei so einem Brocken die Frage auf: Masse statt Klasse oder Value for Money? Vergleiche mit Riesenschnitzeln und Marathonläufern sind also bei der Diskussion um die Platte nicht auszuschliessen. Doch lest selber!





"Dancing With The Past" ist eines der am schwierigsten zu bewertenden Alben meiner Soundcheck-Zeit. Der ANACRUSIS-Mastermind packt stolze 28 Songs auf eine prall gefüllte Doppel-CD. Das ist für Fans natürlich der maximale Gegenwert für langes Warten, von dem sie lange zehren werden. Und ich war ob einer kleinen Facebook-Euphorie-Welle bei einigen Bekannten durchaus auch gespannt, zumal ANACRUSIS' "Screams And Whispers" ein zwar selten aber gern gesehener Gast im CD-Schacht ist. Und was wird mit “Dancing With The Past”? Tja, was soll ich sagen, das Album macht mich in erster Linie ratlos. Bis auf die Ballade 'A Little Light' rauschte bei den ersten Durchgängen alles ziemlich gefühlsneutral durch die Ohren. Erst das dezidierte analytische Hören erlaubte die Konklusion, dass hier ein sehr eigenständiger Musiker seiner Kreativität freien Lauf liess und diese in eine ganze Reihe kompositorisch guter bis sehr guter Songs münden lassen konnte. Doch das alle Wahrnehmungen kombinierende, synthetische Hören, das letztendlich über den Musikgenuss entscheidet, kommt im Falle von "Dancing With The Past" niemals um einen schlimmen Störfaktor herum. Und das ist der Sound. Gitarren und Drums empfinde ich als äusserst dumpf, kalt und steril, so dass mich die Musik nur in den seltensten Momenten berührt, phasenweise gar nervt. Und so könnten hier je nach Lust und Laune hier auch sechs Punkte stehen, wie bei den Kollegen Rapp und Ehmke. Doch dann gibt es sie aber eben doch, die im Vorfeld erwarteten genialen Momente, meist kurzzeitig und transient wie bei Auszügen von 'Dead Letters', 'Submerged' oder 'Climbing' und nur ein einziges Mal über einen vollen Song, eben dem wunderschönen ' A Little Light'. Doch auch dieses klingt in der CRUEL APRIL-Version schöner, ehrlicher, direkter und damit besser. Deshalb ist meinerseits auch angesichts der gewaltigen Länge des Albums viel mehr als "nur" gut nicht drin. Doch man kann diesem alles andere als perfekten Werk durchaus auch Höchstnoten schenken. Wie, das erklären euch aber andere.

Note: 7,5/10
[Thomas Becker]





Was für ein Brocken! Das beschreibt "Dancing With The Past" wohl am treffendsten. Denn einmal angestellt, möchte das Album gar nicht mehr aufhören. Die 28 Songs stellen den Hörer auf eine Geduldsprobe, die nicht nur Easy Listening ist. Weniger wäre hier definitiv mehr gewesen, mit der Länge stellt sich nämlich auch eine gewisse Langeweile ein. Aber auch wenn "Dancing With The Past" mit einigen Lückenfüllern aufwartet, ist es unterm Strich sehr eigenwillig und hat einige Sternminuten zu bieten ('Unnecessary Evil', 'Blinding Lies', 'Dancing With The Past'). Es ist und bleibt aber einfach zu lang und kann über die fast drei Stunden (!) nicht adäquat unterhalten. Dazu gesellt sich ein etwas seltsamer Sound, der sich aus programmierten Drums und dumpfen Gitarren ergibt. ANARCRUSIS-Fans und Leuten mit viel Zeit und Geduld sei es aber dennoch zu empfehlen, denn der Sound ist nichts Alltägliches!

Note: 6.0/10

[Jakob Ehmke]

Meine Worte werden der Klasse dieses Albums nicht gerecht, aber trotz aller Erhabenheit bin ich durchaus froh, dass "Dancing With The Past" langsam aber sicher zum Ende kommt. Zwei CDs, 28 Stücke, über zweieinhalb Stunden Spielzeit, das ist, wie bereits bemerkt, ein unheimlich schwerer Brocken, für den man sehr viel Zeit und Geduld opfern muss. Ein ums andere Mal hab ich bei dem neusten KENN NARDI-Werk darum ein XXL-Schnitzel vor dem geistigen Auge, was ich kurz erklären möchte: Man liebt diesen panierten Fleischlappen, bekommt ihn dann in einer hübschen Verpackung serviert, ist anfangs noch guter Dinge, dieses Ungetüm auch umreißen und als Sieger den Platz verlassen zu können. Doch es kommt, wie es kommen muss: Nach der Hälfte setzt ein unglaubliches Sättigungsgefühl ein, weitere Kostproben werden nicht mehr ganz so euphorisch verspeist und langsam wird die Umsetzung des einstigen Masterplans richtig schwer. Am Ende lässt man vollkommen erledigt dann das letzte Viertel auf dem Teller liegen und kann erstmal kein Schnitzel mehr sehen. Ich denke, das passt auf meine Begegnung mit KENN NARDI und "Dancing With The Past" wohl am ehesten. Beim nächsten Mal reicht auch die Hälfte, wenn überhaupt.

Note: 6,0/10
[Marcel Rapp]





Ach Leute, was seid ihr für Jammerlappen. Natürlich ist das Ding lang. Andere nennen das Value for Money. Kenn hat einige typische Songs, die seine stilistische Verbundenheit mit ANACRUSIS verdeutlichen, mit kleinen Experimenten gemischt. Das Ergebnis ist sicher nicht Easy Listening, Jakob, da gebe ich dir recht, aber die Schlussfolgerung erstaunt mich bei dir, wo doch deine tägliche Kost von diesem Prädikat sonst weit entfernt ist. Ich empfinde "Dancing With The Past" als genau das: Nardi nimmt seine Vergangenheit auf, legt eine fundierte Grundlage aus ANACRUSIS-Anleihen, und startet von diesem Punkt aus seine Entdeckungsreise. Ziel? Zu schauen, inwiefern stilistische Erweiterungen seinem Sound gut tun oder nicht. Wir dürfen bei dieser Expedition mitreisen. Das ist nicht an einem Tag getan, am besten geht es in Etappen, aber nach einigen Tagesmärschen entpuppen sich ausnahmslos alle Kompositionen als interessant, die meisten als großartig. Auch wenn man sie sich erarbeiten muss. Aber Nardi macht eben etwas, was Musik auszeichnen sollte, nämlich Neues erschaffen, Pfade verlassen, uns Lieder vorlegen mit der unausgesprochenen Frage "Und, wie findest du das? Kann man das noch machen und weiterhin toll finden, oder ist das jetzt eher nichts mehr?" Der Sound ist außergewöhnlich, die Mischung aus Gitarrenvirtuosität und klinischen Rhythmen ungewohnt, aber eines ist das Album auf jeden Fall, ein beeindruckendes Statement eines brillanten Musikers, das man intensiv erleben muss, erarbeiten muss, aber das intellektuell fordert wie lange keines mehr. Ich ziehe den Hut vor dem Musiker und diesem Werk, und auch wenn nicht jeder Track Jedem gefallen wird, und auch wenn man vielleicht nicht beide Alben am Stück hören muss, man kann doch dem Musiker nicht vorwerfen, dass er so viel zur Verfügung stellt, anstatt es in drei Portionen zu servieren. Nein, einteilen kann ich mir das selbst. Daher: Danke, Kenn, für das ausladende Material, mit dem ich eine Weile zu tun haben werde.

Note: 9,5/10
[Frank Jaeger]

Genau. (Fast) Alles, was Frank sagt, ist richtig. Ich weiß nicht einmal, wieso die Kollegen nicht auf die so brillante wie einfache Idee gekommen sind, das Album einfach in 2-4 Teilen zu hören. Ich habe im XXL-Restaurant schon häufiger Leute mit einem Teil des Schnitzels nach Hause gehen sehen, um es am nächsten Tag noch einmal zu essen. Das funktioniert mit "Dancing With The Past" noch viel besser, da es hier kein Verfallsdatum gibt. Im Gegenteil: so wie bereits jedes ANACRUSIS-Werk ist auch die hier dargebotene Musik völlig zeitlos. Es gibt tatsächlich keine Band, keinen Musiker, der wirklich nahe am Sound von KENN NARDI ist. Ein viel größeres Kompliment kann es eigentlich gar nicht geben. Klar, man kann es ganz grob in die Schublade "technischer Thrash Metal" packen, aber dafür ist das Material viel zu abwechslungsreich. Ein Song wie 'A Little Light' hat damit gar nix zu tun, ein Song wie 'Made' höchstens rudimentär. Gerade die emotionale Wucht von Nardis Gesang ist es, die mich auch hier wieder packt. Egal, ob er screamt oder whispert, es geht immer tief unter die Haut. Dass Frank nur fast richtig liegt, ist der Tatsache geschuldet, dass man sehr wohl alle Songs auf "Dancing With The Past" toll finden kann. Mit jedem Durchlauf entpuppen sich neue Nummern als Höhepunkte. Nach genügend Durchläufen habe ich jetzt 27 davon gezählt, lediglich das Instrumental 'Lament In Rust' ist vielleicht etwas zu lang geraten. Davon abgesehen, ist "Dancing With The Past" genau das Album geworden, auf das ich gehofft habe. Nur drei Mal so lang. Und das ist auch verdammt gut so.

Note: 9,5/10

[Peter Kubaschk]




Ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen. Nein, nicht den Kurz- und Mittelstrecklern vom Anfang, die beim Nardischen 5000-Meter-Lauf anscheinend schon nach 1000 Metern schlapp gemacht haben, sondern Frank und Peter, die "Dancing With The Past" die Würdigung zu Teil werden lassen, die dieses Meisterwerk verdient. Schon als Kenn die ersten Songs übers Internet verbreitete, bin ich vor Verzückung im Dreieck gehüpft. Mit Stücken wie 'Blood in The Water', 'Dead Letters' oder 'Made' knüpft er nämlich genau dort an, wo er mit dem ANACRUSIS-Monster "Screams And Whispers" vor über 20 Jahren aufgehört hatte. Kenns absolut einmaliger Gesangstil, der einen wahlweise Tränen der tiefen Rührung oder der blinden Wut in die Augen treibt, korrespondiert perfekt mit seinem Gitarrenspiel, das entweder sanft gezupft oder ultrahart gerifft daherkommt. Diese musikalischen Nuklearwaffen kombiniert er in den insgesamt 28 Gänsehaut-Kompositionen so geschickt, dass er meinethalben gerne noch eine dritte CD mit 14 weiteren Tracks hätte hinzufügen können. Den einzigen Kritikpunkt, den ich unterschreiben kann und der dieser Doppel-CD die Höchstnote verhagelt, ist tatsächlich die gewöhnungsbedürftige Produktion.

Note:9,5/10

[Alexander Fähnrich]

Machen wir es kurz: "Screams And Whispers" ist ein klares 10-Punkte-Album. Nun kommt KENN NARDI daher und erforscht, ausgehend von diesem Fundament, die grenzenlosen Weiten seiner Kreativität, was zu insgesamt 28 Liedern führt, die qualitativ mit jenem Klassiker mithalten können. Da wäre alles andere als die Höchstnote nicht drin. Warum hingegen Leute, die ANACRUSIS kennen, sich über den Gitarrensound mokieren, ist mir ein Rätsel, denn genau das ist doch der NARDI-Sound, so und nicht anders müssen diese Klampfen klingen. "Dancing With The Past" ist das Maß aller Dinge im technischen Thrash Metal, emotional tief, instrumental anspruchsvoll und zu jeder Zeit schlüssig komponiert und so lange WATCHTOWER nicht wieder aus der Versenkung auftaucht sehe ich wenige Künstler, die dis ändern könnten, außer KENN NARDI selbst.

Note:10/10
[Raphael Päbst]


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Review von Holger Andrae

Soundcheck 01/2015

Das Album ist auch in unserem Shop erhältlich

Redakteur:
Thomas Becker
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