Gruppentherapie: WINTERSUN - "Time II"
31.08.2024 | 22:09Nun, vom "Chinese Democracy" des melodischen Death Metals zu sprechen, wäre dann doch reichlich übertrieben. Trotzdem hat sich die Veröffentlichung des zweiten "Time"-Teils doch sehr in die Länge gezogen. Doch nun halten wir es endlich in den Händen und WINTERSUN hat nicht zu viel versprochen, den "The Forest Seasons"-Nachfolger "Time II" zu nennen. Zwölf lange Jahre mussten sich Fans gedulden. Doch hat sich die Geduld auch gelohnt? Wir blicken auf die neueste WINTERSUN-Veröffentlichung!
Wer sich nach mehr als einer Dekade mit einem Nachfolger für das 2012 erschienene "Time" zurückmeldet, muss natürlich davon ausgehen einer großen Erwartungshaltung gegenüber zu stehen. Diese ist meinerseits sehr hoch und ich freue mich auf die Scheibe, schließlich hat WINTERSUN schon mit dem gleichnamigen Debüt 2004 die Messlatte extrem hoch gehängt. Das Intro von "Time II" vermag mich schon in seinen Bann zu ziehen und baut eine perfekte Stimmung auf; ich fühle schon, wie ich auf eine kleine Reise eingeladen werde. Ein sehr schöner Opener. Jetzt kann es losgehen und ja, 'The Way Of The Fire' zündet bei mir förmlich durch. Das treibende Schlagzeug und der gewohnt epochale Teppich aus Keyboard und Gitarre sind schlichtweg ein Garant für Nackenschmerzen. So muss WINTERSUN klingen. Leider kommt für mich aber nach dem Feuer hier eher die verbrannte Erde. Die restlichen Songs schaffen es nicht die Stimmung mitzutragen geschweige denn überhaupt eine aufzubauen. Hier hilft es auch nicht, dass alle Songs genügend Platz hätten, schließlich begegnen wir hier zwei 12-Minütern. Mir fehlt da einfach der tragende rote Faden, an dem ich doch so gern mit WINTERSUN durch die Elemente reisen würde. Eher zuckt mein Finger in Richtung Skip-Taste, in der Hoffnung beim nächsten Song wieder Fahrt aufzunehmen. Auch live vermag ich mir diese Platte nur schwer vorzustellen, da es hier für mich an allen Ecken und Enden fehlt, um das Publikum in einen tobenden Hexenkessel zu verwandeln. Für mich wirklich schade, da mir die See, in der die "MS WINTERSUN" segelt doch zu ruhig ist und ich mir hier eher einen peitschenden Sturm gewünscht hätte.
Note: 6,0/10
[Norman Wernicke]
Gefühlt alle 100 Jahre geben die Finnen WINTERSUN ein Lebenszeichen von sich. "Time II" erscheint also doch noch, werden Fans nun sagen, kaum zu glauben eigentlich. Nach "Time I" aus dem Jahre 2012 unterbrach die Band den Zyklus unter anderem aus Unzufriedenheit mit dem damaligen Label. So kreierte die Combo zunächst "The Forest Seasons" - eine seltsame Veröffentlichungspolitik, so muss man sagen. So durcheinander klingt ehrlich gesagt auch das neue oder erst jetzt zu Ende gebastelte Album, ich nehme es mal vorweg. Das Intro 'Fields Of Snow' mit leicht fernöstlich tönenden, sehr kitschigen Keyboard-Vibes und sich zuschaltenden Engelschören führt mitten hinein in das schwelgerisch-bombastische Geschehen. Der Zehnminüter 'The Way Of The Fire' eröffnet ganz im ENSIFERUM-Gedenkrhythmus, Folk, Stampfen, Geklirre, dann die Giftstimme von Bandleader Jari Mäenpää, das stimmt uns zunächst recht fein. Die Gäule gehen durch, Klargesänge heroischer Natur gesellen sich hinzu. Jari hält sich nicht an das altbekannte Strophe-Refrain-Schema. Es mäandert alles auseinander, ein Kaleidoskop zahlreicher Einfälle und Ideen, aus denen durchaus eigene Songs hätten entstehen können. Kreativ ist er - das muss man ihm lassen. Das tackernd aufgenommene Schlagzeug ist allerdings etwas enervierend. Okay, es wird ordentlich das Feld gesenst: Die Band liebt auch BLIND GUARDIAN, das merkt man, wenn sie in den metallischen Schunkelmodus schaltet. Die Übersicht allerdings verliere ich schon bei diesem Track.
'One With The Shadow' gefällt auch am Anfang, wenn Jari keift, das ist seine Stärke, denn seine gemeine Stimme setzt Kontraste zu der permanent abhebenden, schwelgenden Musik. Dieser kürzeste der langen Songs ist noch der am ehesten nachvollziehbare. Das melodische, soloartige Interludium 'Ominous Clouds' lässt kurz innehalten und stimmt auf den nächsten Song mit Überlänge ein. Im Grunde sind es nämlich vier Tracks von insgesamt circa 41 Minuten, die das Album ausmachen. 'Storm' kommt zunächst mit Akustikgitarren zu Windgeräuschen, klackert dann davon, mitten hinein in den wattigen Hain. Theatralisch, forsch und unerschrocken zimmert sich die Band durch den Sturm. Das Lied zeigt endgültig, dass WINTERSUN kürzere Stücke schreiben sollten. Alles wirkt zugekleistert und überladen, nichts wirklich griffig. Da ist MOONSORROW ein ganz anderes Kaliber. Okay, passt nicht ganz, aber der Leser versteht meine Intention. Power Metal, Black-Versatzstücke, Folk und Melodic Metal ergeben hier eine zuckrige Melange ohne allzuviel Tiefe oder Wiedererkennungswert. Die Gitarren laufen die Tonleitern unentwegt auf und ab, Unruhe scheint Teil der Übung. Das Finale endlich bildet 'Silver Leaves': Leierndes japanisches Instrumentalgezupfe sorgt für Fluchtreflex, sehr, sehr lange dauert es, bis der Song überhaupt den Namen verdient. Ein heldischer Tenor führt in den fallenden Schnee, der Samurai scheint die Augen für immer zu schließen. Sind wir mal offen: All das ist weder progressiv noch innovativ. Der Abschluss gerät vom ausgiebig wiederholten Grundthema her ganz besonders enervierend. Mehr als sechs Punkte sind nicht drin.
Note: 6,0/10
[Matthias Ehlert]
Wie ihr hoffentlich in unserer aktuellen Podcast-Soundcheck-Folge gehört habt, bin ich maximal begeistert. Zwölf verdammte Jahre hat Jari Mäenpää gebraucht, um endlich den Nachfolger von "Time" einzutüten. Und gut Ding will Weile haben. Es geht hier immerhin um einen direkten Nachfolger, somit müssen im Idealfall viele kompositorische Entscheidungen nicht nur wohl überlegt werden, sondern den Geiste des Originals mit jeder Faser weitertragen. Und WINTERSUN hat den perfekten Nachfolger geschaffen. Die volle Strahlkraft ergibt sich erst nach Durchlauf beider Alben back to back. Wie es sich für eine gelungene Fortsetzung gehört, wurde die cineastische Komponente weiter gesteigert. Soll heißen, die Prämisse höher, schneller, weiter wurde erfüllt und dabei dem zweiten Teil trotzdem noch eine eigene Identität geschenkt. Ebenfalls wurden aber die letzten zwölf Jahre Produktionstechnik nicht ignoriert und genau der klangliche Weg gefunden, um ein herausragendes Hörerlebnis zu schaffen. Und da muss ich unserem neuen Kollegen Matthias rigide widersprechen. Wie bei einer ambitionierten Wanderung über einen Gebirgskamm, schafft WINTERSUN die Balance zwischen kreativen Einfällen im Überfluss (progressiv ist hier tatsächlich wenig) und der im Pagan Metal üblichen und notwendigen Repetition nahezu perfekt. Zwar gibt es immer mal kurz kritische Momente und ein leichtes Abrutschen am jeweiligen Hang, aber das gehört zu einer spannenden Reise dazu. Seit meiner Annapurna-Umrundung 2017 bin ich dieser Form von epischem "larger than life"-Sound komplett verfallen und auch heute spüre ich wie sich mein Rucksack wie von Geisterhand, im Augenwinkel selbst packt, um das nächste Abenteuer einzuläuten. Vielleicht ist es nur eine euphorische Momentaufnahme, aber aktuell finde ich den zweiten Teil sogar noch stärker als "Time". Wenn ich dort etwas zu kritisieren hatte, dann war es eher die Anmerkung den fernöstlichen, asiatischen Klängen noch mehr Raum zu geben. Und als wäre mein Wunsch vom Wind über die japanischen Kirschblütenbäume am Hange des Fuji direkt nach Finnland geweht worden, gibt es jetzt deutlich mehr traditionelle Klänge und vor allem wesentlich harmonischer und homogener integriert. Mittlerweile übernimmt Jari auch viele Tonfolgen direkt auf seiner Klampfe und adaptiert diesen Gagaku-Sound sogar in einem Ultra-Hit wie 'One With The Shadows' im eigenen Gesang. Ohne jeden Zweifel – der Shōgun des "Panorama-Metal" hat wieder zugeschlagen und jetzt liegt es an mir diesem Soundtrack noch die erforderliche Reise zu schenken, um den letzten fehlenden halben Punkt zum Meisterwerk zu finden.
Note: 9,5/10
[Stefan Rosenthal]
Bei manchen Alben kann ich der Benotung und der Interpretation von Kollege Rosenthal zu 100% folgen. Bei WINTERSUN frage ich mich dann aber schon, ob wir nicht vielleicht zwei unterschiedliche Promos bekommen haben. Ja, ich bin garantiert kein WINTERSUN-Fan und mir ist demzufolge maximal wurscht, wie viel Zeit seit "Time" vergangen ist. Auch wenn ich in diesem Umfeld mit NIGHTWISH und AVANTASIA zwei Guilty Pleasures habe, geht mir der von Stefan "Panorama Metal" genannte Ansatz hier eindeutig zu weit. "Time II" ist für mich das beste Beispiel, wie man es nicht angehen sollte. Für mich wirkt das Album so glattpoliert und kalkuliert, dass es mir die Lauscher zuklappt. Wenn es einen Wettbewerb gibt, mit wie viel Spuren man auch einfache Ideen zukleistern möchte, dann haben die Finnen ihn hiermit gewonnen. Und dafür war die Produktionstechnik vor zwölf Jahren noch nicht bereit? Naja, der Arbeitsspeicher des Studio-Macs vielleicht. Aber in meiner musikalischen Welt gibt es seit den BEATLES, LED ZEPPELIN und QUEEN ganz hervorragend produzierte Alben. Argumentativ kann ich also unser beider Vorredner Matthias beipflichten: WINTERSUN ist wie Zuckerwatte. Erstmal bunt, süß und lecker, nach der ersten Runde Autoscooter hat man wieder Hunger und fragt sich, wieso man für das anstrengende Verspeisen der Zuckerwolke so viel Zeit geopfert hat. Beim abschließenden Fazit bin ich ergo ganz bei Stefans Kommentar im Soundcheck: Ich könnte ohne Probleme weitere zehn Jahre auf "Time III" warten.
Note: 6,0/10
[Nils Macher]
Nein, so schlimm und endlos wie "Chinese Democracy" ist die Geschichte um "Time II" nicht. Ich kann aber verstehen, weshalb auch dem treuesten Fan irgendwann ein müdes Gähnen über die Lippen ging, wenn WINTERSUN diese Thematik um den "Time I"-Nachfolger öffnete. Doch nun - siehe da, oh Wunder - liegt uns das Album vor und meine Herren... was lange währt, wird endlich gut!
Episch, anmutig und erhaben auf der einen, gewaltig, rasend und brachial auf der anderen Seite, so piekfein und detailverliebt sich die Melodien auch die Klinke in die Hand drücken, so stürmisch und erhaben zugleich pushen sich 'The Way Of The Fire' oder auch 'One With The Shadows' gegenseitig in die Höhe. Ich habe "Time II" auf meinem Weg zum Reload-Festival gehört und fand mich während der Fahrt in einer anderen Welt wieder. Irgendwas macht dieses Opus Magnus "Time II" mit mir, irgendwie lässt es mich nicht mehr los, irgendwo hin führt mich diese Musik noch. An einen Ort, den es noch zu ergründen gilt. Bis dahin haben meine Kollegen schon nahezu alles über WINTERSUNs vierten Longplayer geschrieben. Bleibt nur zu erwähnen, wie facettenreich und doch herrlich strukturiert diese Platte mit 'Storm' und 'Silver Leaves' weitergeführt wird und welche Gefühle und Emotionen dieses Werk schon jetzt mit sich bringt. Ein Album, das dem ersten Teil zwar nicht in Gänze das Wasser reichen kann, welches jedoch ein ungemeines Entwicklungspotential hat, was es noch zu entdecken gibt.
Note: 8,5-9,0/10
[Marcel Rapp]
Ich verfalle aus holprigem Laufschritt in wackliges Gehen, stolpere stark schnaufend mit rotem Kopf noch einen letzten Schritt in die Böschung und sinke rücklings zu Boden. Aus meinen Kopfhörern nehme ich gerade so noch Meeresrauschen und klirrendes Triangelklimpern wahr. Meine treue Cavalier-King-Charles-Hündin leckt mir besorgt das Gesicht und bringt dadurch meine Lebensgeister zurück!
Obwohl ich die Wucht und insgesamt auch den verspielt-paganisierten Powermetall von WINTERSUN durchaus in der metallischen Schnittmenge dessen sehe, was mir so gefällt - da dient mir wie Norman der zweite Track 'The Way Of The Fire' als Beispiel - fand ich während ca. sechs Durchläufen keinen richtigen Zugang zu "Time II". Ehrlich wie immer gebe ich außerdem zu, dass ich die Band namentlich zwar kannte, jedoch höchstens mal auf einem Sampler oder auf einer Festivalbierbank einen Song von ihr gehört hatte. Als ich beim siebten Durchlauf gestern im Zug aus dem Urlaub nach Hause während des Gedudels von 'Ominous Clouds' fast einschlief, rang ich mich endgültig dazu durch, wie Stefan, die von ihm so hochgelobte "cineastische Komponente", den "larger than life"-Sound für mich komprimiert erfahrbar zu machen. Gesagt, getan: Ich packte den Hund ins Auto, fuhr heute in aller Frühe zum Ipf in Bopfingen, drückte mir meine geliebten metallic-roten Kophörer auf die Rübe, trabte am Fuße des Tafelberges, der keiner ist, los und... konnte außer einer läuferischen Nahtoderfahrung, der von Matthias richtig erkannten Nähe der Schunkelparts zur Musik von BLIND GUARDIAN und überdies der manchmal deutlich kürschenden Stimme von Jari Mäenpää, nicht weltbewegendes gänzlich Neues in meinem Erleben der Musik von WINTERSUN auf 'Time II' erkennen. Aufgrund der bisher in dieser GT angedeuteten Lobeshymnen auf das 2012er Album "Time I" gönnte ich mir gestern im Zug via grünem Punkt noch einen ersten Durchlauf dieses von vielen als Meisterwerk empfundenen Albums und muss abschließend ernüchtert attestieren, dass Kollege Rosenthal vielleicht am Annapurna höher, schneller und weiter voran gekommen ist, dieses auf die kompositorische Arbeit bezogene Arbeitsziel bei WINTERSUNs neuem Album "Time II" jedoch überhaupt gar nicht hilfreich war. Hier trifft im Gegenteil der genauso bekannte Leitsatz "Weniger ist manchmal mehr" zu. Dennoch kann ich einen halben Punkt höher gehen als Norman, Matthias und Nils, weil mich die wuchtige Power der Musik an einigen Stellen schon packt.
Note: 6,5/10
[Timo Reiser]
Okay, als ich in der Redaktion WINTERSUN hörte, hab ich gleich die Hand gehoben um ins neue Album reinzuhören. Und dann hab ich kurz gestutzt und nochmal alle Alben durchgehört, denn beim Hören des neuen Albums ist mir klar geworden, WINTERSUN hat mir am besten auf "Wintersun" gefallen. Also dem ersten Album. Auch das zwischen die beiden "Time"-Parts geschobene Album "The Forest Seasons" funktioniert für mich noch gut. Bei dem Album "Time I" bin ich aber einfach raus. Für mich persönlich zu weich, zu verspielt, zu langatmig. Und da muss ich leider eingestehen, Power Metal ist einfach nicht so richtig meins – ich weiß darin liegt eine gewisse Ironie – damit meine ich natürlich ausschließlich die musikalische Stilrichtung und nicht das großartige, vielseitige gleichnamige Online-Magazin. Ich mag Jaris Stimme, eben wenn sie etwas kreischt und fieser klingt. Den Klargesang bräuchte ich zum Beispiel überhaupt nicht. Also gar nicht. Und ich merke, auf die epischen Orchester-Arrangements kann ich mich einfach nicht so recht einlassen. Das erklärt vielleicht auch die doch sehr polarisierenden Einschätzungen meiner Kollegen, der eine kann in diese endlosen Arrangements eintauchen und manch andere mögen nach Minute sechs oder sieben denken: skip. Ich habe mir den Spaß erlaubt die damalige POWERMETAL.de-Rezension zu 'Time I' mal durchzulesen. Im zweiten Absatz steht da sinngemäß, das zweiteilig konzipierte Werk wird hoffentlich 2013 fertig. Klingt jetzt, 2024, doch etwas lustig. Leute, für mich ist das zu verkopft. Es gibt tolle energiegeladene Momente, die dann aber wieder komplett ausgebremst werden. Eine Version des über zwölf Minuten langen Songs 'Storm' um die ganzen schwurbligen Passagen gekürzt, würde mir wahrscheinlich großartig gefallen. Fazit, hate it or love it, man steht drauf oder halt eben nicht. Respekt vor der musikalischen Leistung, das Album wird sein Publikum finden. Ich leg mir jetzt ein bisschen was Roheres auf...
Note: 6,0/10
[Barbara Sopart]
- Redakteur:
- Marcel Rapp