NAPALM DEATH: Interview mit Mark "Barney" Greenway

19.04.2015 | 12:05

"Apex Predator – Easy Meat", das vor einigen Wochen erschienene, inzwischen 16. Studioalbum der Birminghamer Trümmerlegende NAPALM DEATH, begeistert den Hauptrezensenten, schneidet im Soundcheck eher mäßig ab und bleibt völlig unabhängig von irgendwelchen Bewertungen vor allem eines: ein Zeugnis über die Einmaligkeit dieser Band. Fronter, Sänger und Teilzeit-ADHS-Erkrankter Mark "Barney" Greenway, sichtlich geschlaucht vom Interview-Marathon der letzten Tage, begrüßt mich während der dunklen Monate ausgesprochen freundlich in den Hallen von Century Media. Das folgende Interview ist da nicht nur erhellend, sondern eines der besten, welches ich jemals als Musikredakteur führen durfte. Es folgt das Gesprächsprotokoll über die wesentlichen Dinge des Lebens: Musik, Freundschaft und Leben als solches.

Das Gespräch beginnt mit einem kurzen Abriss seines letzten Ruhrpott-Trips, weshalb wir auch auf den Gig mit HATEBREED in der Matrix Bochum zu sprechen kommen: "HATEBREED ist anlässlich des 20-jährigen Bandjubliäums auf Tour gewesen und wir sind sehr gut befreundet, also sind wir für einige Konzerte gerne mit aufgesprungen. Das waren Gigs mit zwei sehr unterschiedlichen Bands und viele der Leute, die für HATEBREED gekommen sind, werden mit unserem Material das erste Mal konfrontiert und erahnen vielleicht einige unserer Ideen, was eine tolle Sache ist." NAPALM DEATH würde immer das tun, was NAPALM DEATH nun einmal tue, und dabei dann auch nichts darauf geben, ob man an einem Abend Headliner, "Special Guest" oder "Support" sei. "Die Jungs von HATEBREED sind zudem einfach klasse. Wir haben immer eine sehr lustige und gute Zeit mit ihnen."

Auf die Gradlinigkeit des neuen Albums "Apex Predator – Easy Meat", gerade im Vergleich zu "Utilitarian", angesprochen, ist sicher Barney nicht sicher, ob er zustimmen kann. "Findest du das wirklich? Weißt du, ich habe natürlich schon mit einer Menge Leute darüber gesprochen und es scheint sich ziemlich genau in der Mitte zu teilen: Die einen sagen, es sei eher experimentell, andere sagen, es sei eher geradlinig. Das scheint sehr subjektiv zu sein. Für mich persönlich ist es zwar nicht experimenteller als zuletzt, aber die Experimente sind zwei Schritte weiter. Wenn man sich die Gitarrenarbeit genauer anhört, wird man einiges abgefahrenes Zeug erleben." Dass diese schrägen Elemente aber schon immer ein Teil waren, gibt Herr Greenway freilich gerne zu: "Ja, auf jeden Fall, doch jetzt noch umso mehr. Eigentlich ist es von beiden Teilen mehr." Früher sei die Herangehensweise 'Hier ist ein ruhiger, atmosphärischer Part, dann geht's nach vorne, dann wieder ein ruhiger Part...' gewesen. Jetzt seien diese gemixt und passieren gleichzeitig.

Ein trockenes "Einfach. Ganz ehrlich: einfach." erhalte ich als Antwort auf die Frage, wie schwierig die Umsetzung neuer Gesangselemente war. "Für mich ist das eine Sache des Selbstbewusstseins und Wohlfühlens. Wenn ich mich wohlfühle, dann haue ich diese Sachen heraus. Da hatte ich noch nie Angst vor. Einiges haben wir schon auf "Harmony Corruption" gebracht, aber zu der Zeit war ich mir abseits der kehligen Sachen noch nicht so sicher. Jetzt singe ich einen Song in Bariton-Lage mit Tonartenwechseln und so weiter, kein Problem." Selbstbewusstsein, dass man NAPALM DEATH immer wieder anmerkt: Die Band weiß, was sie kann. "Ja, allerdings sind wir auch nicht zu überzeugt von uns selbst", lenkt Barney ein. "Es fliegt von Zeit zu Zeit immer mal wieder Material heraus. Wenn das Arrangement nicht passt, dann ändern wir es, ansonsten haben wir aber auch keine Angst, es rauszuschmeißen. Das sagen wir uns auch ganz offen ins Gesicht, was hin und wieder etwas knifflig sein kann, aber so funktionieren wir."

Nach kurzer Plauderei über die wie immer recht abgefahrene Rhythmik der Briten, dreht Barney kurzerhand den Spieß um: "Gefällt dir das Album denn überhaupt?" und lacht. Dass dies der Fall ist, kann jeder unserer Leser leicht meinem Review entnehmen. Barney weise ich vor allem auf das Intro hin, welches ich so wunderbar krank finde und bei dessen ersten Durchlauf mir bloß der Gedanke 'Was bitte ist denn jetzt kaputt?' kam. Herrn Greenway gefällt dies: "Es freut mich, dass du das so sagst, denn dann haben wir unser Ziel erreicht. (lacht) Manche Musik muss einem einfach auf den Sack gehen, die ist nicht dazu gemacht, Leute zu amüsieren. Wir haben auf dem letzten Album bereits ein Intro gehabt und das war auch in Ordnung, aber jetzt wollten wir die Hörer so richtig nerven." Mission accomplished, würde ich meinen. NAPALM DEATH kann die Skala, was den Härtegrad betrifft, auch nicht mehr ausbauen, insofern ist das Verstörende nun das Mittel der Wahl. Aber warum soll Musik nerven? "Die meiste Musik bewegt sich in diesem Spektrum (zeigt mit seinen Händen einen kleinen Abstand), aber für mich geht es in Musik um Gefühle, daher muss nicht alles immer schön und eingängig für die Ohren sein. Benutzt das gesamte Spektrum (zeigt einen großen Abstand)! Und ist das mit Musik nerven überhaupt eine schlechte Sache? Ich würde sagen nein. Einige der besten Alben, die ich jemals gehört habe, sind verdammt scheiße nervig!" Als Beispiel führt Barney an dieser Stelle frühe SWANS an.

Er erinnert mich mit einigen seiner Aussagen an mein letztes Interview, welches ich mit Alan Averill von PRIMORDIAL geführt habe (hier nachzulesen) und kann diesem in vielerlei Aspekten nur zustimmen. Für mich ist der Punkt damit abgehakt, Barney brennt es jedoch auf der Seele und er steigert sich richtig hinein, wie genial kaputte Musik doch sein könne, wie unglaulich manch unhörbare Band doch sei und was kranke Musik in ihm auslösen könne. Wundern tut einen dieser leidenschaftliche Anfall natürlich nicht. Ein kurzer Anekdoten-Austausch führt dann zu folgender amüsanten Erzählung Barneys: "Mein inzwischen vestorbener bester Freund hat sich oft mit Leuten bei sich getroffen, wobei das weniger Partys als viel mehr größere Abendessen waren. Bei ein paar dieser Personen war es jetzt nicht so, dass er diese nicht mochte, aber sie wurden anstrengend und nervig, je mehr sie intus hatten. Für so einen Fall hatte er immer eine NAPALM DEATH-Platte zur Hand, die er dann im Hintergrund aufgelegt hat. Die Leute haben sich dann entschuldigt, verabschiedet und sind recht zügig nach Hause gegangen. Das hat jedes Mal funktioniert. Sie waren aber zu höflich, um die schreckliche Musik mal zu kommentieren." Ich nutze die Chance und bringe dem NAPALM DEATH-Fronter das deutsche Wort 'Rausschmeißer' bei.

Als nächstes kommen wir auf Mitch Harris (git.) zu sprechen, der schon seit einiger Zeit aus nicht näher bekannten Gründen in der Band vertreten wird. "Ihm geht es okay. Er hat keine Krankheit oder ähnliches, es ist halt eines dieser Dinge im Leben, mit denen man umgehen muss. Mitch soll sich die Zeit nehmen, die er braucht, ob das jetzt ein Jahr ist oder wie lang auch immer ist." An einen 'Rausschmiss' denkt Barney dabei zu keiner Sekunde: "Wenn man sich nicht mal mehr um seine Bandkollegen kümmern kann... weißt du? Es wäre komplett herzlos, jemanden rauszuschmeißen, der gerade mit gewissen Umständen klarkommen muss. Warum sollte man das tun? Das wäre nicht der Geist von NAPALM DEATH."

Das letzte große Feld, welches wir beackern, ist das der Politik. Unverfänglich möchte ich mit der Aussage einleiten, dass NAPALM DEATH grundsätzlich als eine politische Band gelte, werde dann jedoch direkt unterbrochen: "Das ist möglicherweise etwas ungenau. Politik ist oft sehr spaltend und bei NAPALM DEATH geht es stets darum, Leute zusammenzubringen. Dass ich grundsätzlich aus der linken Ecke komme und meine Überzeugungen daher stammen, darüber brauchen wir natürlich nicht diskutieren. Aber im Bezug auf NAPALM DEATH trifft es wohl am ehesten zu, dass wir eine humanitäre Gruppe im wahrsten Sinne des Wortes sind." Barney ist es zudem wichtig, dass von der Band immer nur Vorschläge, aber niemals Anweisungen ausgehen. Darauf angesprochen, dass viele zwar wissen, dass man es bei den Birminghamern mit Leuten zu tun hat, die viel Wert auf die Texte legen, sich möglicherweise jedoch nur wenige mit diesen befassen und insbesondere live wohl kaum jemand auch nur ein Wort versteht: "Man muss akzeptieren, dass man nicht alles kontrollieren kann. Das ist auch ein Opfer der Musik, auch wenn ich glaube, dass sich unsere Texte leicht in ein anderes Musik-Genre übertragen ließen. Aber wie auch immer: Live versuche ich zwischen den Songs auch immer ein wenig den Hintergrund einiger Songs zu erläutern. Ob das nun ankommt oder nicht, sei mal dahingestellt, aber ich probiere es immerhin. In den Alben sind die Lyrics immer sehr deutlich abgedruckt, wer sie also lesen möchte, hat dort die Möglichkeit dazu." Dass einige Leute lediglich auf die Konzerte zu kommen, um die Musik zu hören, stört Barney dabei überhaupt nicht. Vom Hinweis, dass die Zusammenkunft von Leuten zu einem Konzert und dem dortigen Verbringen einer guten Zeit etwas zutiest Humanitäres sei, ist er sogar regelrecht angetan.

Auf die Frage, wer für das leckere Artwork (siehe links) verantwortlich sei, bekennt sich Mark Greenway sogleich schuldig: "Das Konzept des Albums stammt von mir." Es basiert auf dem Rana-Plaza-Unglück in Bangladesh im April 2013. Damals stürzte ein Fabrikgebäude zusammen, was über 1000 Tote und mehr als 2000 Verletzte zur Folge hatte. An dem Gebäude waren bereits Mängel in Form von Rissen festgestellt worden, weshalb dieses offiziell nicht mehr betreten werden durfte, jedoch zwangen die Betreiber der Fabrik die Textilarbeiter dazu, ihre Arbeit aufzunehmen. "Dieser Vorfall schrie danach, von jemandem weitergetragen zu werden." Ich suche nach einer passenden Übersetzung für das Wort 'Unglück', um zu erfragen, warum gerade diese Katastrophe ihn inspiriert habe, und entscheide mich für 'unfortunate happening', was direkt wieder Barney auf den Plan ruft: "Du bist da genau genommen auf einen besonderen nützlichen Ausdruck gestoßen. Es war nicht 'unglücklich' [unfortunate – OP] in diesem Fall. Man wusste, dass irgendetwas passieren würde. Das Schlimme: In Medien war es für vielleicht einen Tag in den Schlagzeilen, nach kurzer Zeit hat man fast nichts mehr gehört. Bei anderen Katastrophen hatte man eine laufende Berichterstattung für einige Zeit, nimm zum Beispiel das verschwundene Flugzeug [Malaysia Airlines Flight 370 – OP]. Aber das Rana-Plaza-Disaster war recht schnell abgehakt. Aus meiner Sicht könnte man dadurch den Eindruck bekommen, dass Leben in manchen Situationen billiger ist als in anderen, weil ein gewisses Interesse genau darin besteht." Er führt aus, wie in diesem Fall vor allem große Kleidungsfirmen ein Interesse daran hatten, dass das Thema schnell vom Tisch war und dass die obligatorischen Krokodilstränen auf den Pressekonferenzen nichts mehr als Heuchelei waren. "So ein Vorfall ist für uns [Konsumenten im Westen – OP] natürlich unangenehm und ich glaube, dass wir umdenken müssen, egal ob es jetzt um Kleidung, Essen oder sonst etwas geht."

Den genaueren Bezug zum Album erklärt Barney dann weiter: "Wir haben uns schon immer evolutionären Begriffen bedient. 'Apex Predator' ist derjenige an der Spitze der Nahrungskette." Er gibt einige allgemeine Beispiele für das höchste Glied in einer Rangordnung, nennt jedoch auch ganz klar, wen NAPALM DEATH hier meint: "Die Konzerne, die Firmen, die Bosse, die solche Zustände für ihre Arbeiter zulassen; die ihre Leute dazu zwingen, 20-Stunden-Schichten zu schieben und wo eine konkrete Gefahr besteht, dass jemand wegen der oder auf der Arbeit stirbt. Genau diese sind nämlich 'Easy Meat' am Ende der Kette." Das Artwork bringt dies auf den Punkt und hat zudem noch einen Wink auf unsere miserable Ernährung (die zweite Ebene des Ausdrucks 'Easy Meat') parat. Was er glaube, werden sich Leute denken, wenn sie in den Laden gehen und sich die CD in die Hand nehmen? Er lächelt, wohl wissend, den Reiz passend gesetzt zu haben und weißt mich auf ein paar nette Details im Artwork hin, die ich dem Leser an dieser Stelle jedoch selbst erforschen lassen möchte – genaues Hingucken lohnt sich.

Was die Zukunft der genannten Probleme angeht, sieht Barney großen Handlungsbedarf, wenngleich er weiß, wie schwierig ist, dort anzusetzen: "Man könnte den Leuten sagen 'Kauft nicht bei so einem Scheißladen wie Primark!' und ihnen erklären, was ihr Einkauf zur Folge hat und dass sie das Geld, was sie im Jahr für Shirts ausgeben, dort lassen sollen, wo nachhaltiger gehandelt wird. Aber das ist natürlich schwierig und ich will diese Leute auch nicht verurteilen, weil ich weiß, dass die Leute nur ein begrenztes Budget haben und so weiter und sie gewisse Dinge nun einmal brauchen. Aber diejenigen mit den schier unglaublichen Profiten, welche die Stimmung machen und die Agenda festsetzen, dass man sich denkt 'Oh, ein Shirt für 8 Euro – und es sieht toll aus!', diese müssen sich ändern." Von hier aus kommen wir zu der wohl bekannten, nicht gerade fröhlichen Frage, wie man ein System mit so einem Machtverhältnis bzw. -gefälle überhaupt ändern kann. "Wahrscheinlich sind wir erst einmal eine Zeit lang darin gefangen, aber irgendwann muss mal ein Gesetzgeber mit ein paar Eiern kommen und diese Leute aufhalten." Ohne arrogant sein zu wollen und jemanden zu verurteilen (er betont dies mehrfach), hält Mr. Greenway fest, dass jeder selbst bestimme, wo er was einkauft und das es theoretisch möglich sei, sich auch ohne Reichtum 'verantwortungsbewusst' einzukleiden.

Wenn man diesen Herrn so reden hört, dann merkt man, dass ihn vieles auf dieser Welt beunruhigt und teilweise richtiggehend aufregt, auf der anderen Seite ist Barney Greenway ein Mann der Hoffnung und Perspektiven. Einen Abgesang auf die Menschheit sucht man vergeblich. Zum Abschluss eine Aussage, welche während des Gesprächs nebenbei fiel und die mich mit Blick auf die Live-Performances zuerst schmunzeln ließ, dessen Wahrheitsgehalt ich mich nach 40 Minuten der Unterhaltung mit ihm jedoch nicht mehr erwehren kann: "Genau genommen bin ich eine sehr, sehr ruhige Person. Und zudem auch sehr friedvoll, viele sagen sanft und in mich ruhend." Laute Wasser sind manchmal still und tief.

Redakteur:
Oliver Paßgang

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