SUMMER BREEZE 2019 - Dinkelsbühl
18.09.2019 | 20:0618.08.2019, Flugplatz
Der Metal-Marathon von Dinkelsbühl, die 23.
Heute geht es richtig los, nun kommt auch die Hauptbühne ins Spiel und die musikalische Planung wird etwas schwieriger, wenn man zwischendurch noch grillen will, mal in Ruhe ein Bier trinken und natürlich mit den Kollegen ein paar Worte wechseln möchte. Mir würden deswegen ja zwei Bühnen weniger auch genügen, zumal der Weg zur "Ficken"-Stage außerhalb des Hauptgeländes inklusive Anstehen, um die Main Area wieder betreten zu können, leider oftmals einfach zu lang ist und deswegen von dort kaum berichtet werden kann. Aber ich bin ja auch alt.
Der Tag auf der Hauptbühne beginnt mit den US-Amerikanern IRON REAGAN, die mit ihrem Thrash den müden Kriegern, die sich nach einer mehr oder weniger geruhsamen Nacht vor der großen Bühne eingefunden haben, die Energie zurückgeben. Die Lieder sind allesamt kurz und prägnant gehalten und erreichen oftmals nicht einmal die Zwei-Minuten-Maerke, was anfangs zu leichten Irritationen im Publikum führt, wenn so ein abruptes Ende das gerade begonnene Headbanging jäh in die Stille führt. In 45 Minuten bringt die Band daher auch eine SOD-würdige Anzahl an Songs unter, die MUNICIPAL WASTE-Sänger Tony Foresta während der Songs aggressiv und zwischen den Liedern als Kontrastprogramm nett und sympathisch zelebriert. Für daheim im CD-Player ist mir das weiterhin zu abgehackt, aber live machen die Jungs ihre Sache als Anheizer gut und hätten mehr Publikum verdient gehabt, als sich ab 12:00 Uhr auf dem weiten Gelände der Hauptbühne tummelt.
Im Anschluss darf LORD OF THE LOST ran und bietet ein erhebliches Kontrastprogramm, zieht aber schon deutlich mehr Besucher aus den Schlafsäcken und vor die Bühne. Das Wetter ist bestens, was die Kombination aus Sonnenschein zu Dark-Rock-Klängen bedeutet. Nun ja, man kann nicht alles haben, dafür kredenzen die Hamburger uns aber große Melodien zum Mitsingen und viel Synthesizer. Speziell am Anfang brauchen Einige etwas, um in Stimmung zu kommen. Erst beim zweiten Lied 'Loreley' vom aktuellen Album "Thornstar" und dem anschließenden 'Morgana' hat sich die noch ausbaufähige Meute an die poppigen Melodien gewöhnt, die die Band mit Freude und ohne Angst vor Überschreiten der Kitschgrenze intoniert und vor allem ihr aktuelles Album bewirbt. Dass die Kostümierung und Schminke zu einem Sommerfestival nur begrenzt passt, ist völlig unerheblich, auch dass das martialische Aussehen und Acting nicht zu den doch recht gemäßigten Klängen passt, ist nicht entscheidend, denn musikalisch trifft man sehr wohl ins Schwarze. Sehr schön.
Direkt danach darf auf der kleinen Bühne THE DOGS einen fetten Rock 'n' Roll irgendwo zwischen Rockabilly, Garage und Punk auf die Bühnenbretter bringen. Die Jungs sind ganz in Schwarz gekleidet und als ich für die letzten Lieder eintreffe, nachdem ich Fotos auf der Hauptbühne gemacht habe, bereits genauso durchgeschwitzt wie auch das Publikum. Eine halbe Stunde solche Energie, die sich anscheinend verlustlos auf die vorderen Reihen der bangenden Meute übertragen hat, kann diesen Effekt nach sich ziehen. Die Band sucht den Kontakt mit dem Publikum auch körperlich und scheint Spaß in den Backen zu haben, jedenfalls grinsen die Banger im Publikum bis zum Rausscheißer 'Oslo' breit und lassen sich dann von der Band persönlich verabschieden, die nicht nach hinten, sondern in die Menge nach vorne von der Bühne geht. Sehr sympathisch, diese Norweger.
Wenn der Tag mit TWILIGHT FORCE beginnt, dann kann man schon mal ganz locker von einem "märchenhaften Start" sprechen. Nennt mich verrückt, aber diese Band, die es auf so ziemlich jeder Ebene übertreibt, ist für mich so viel besser als all jene Gruppen, die das Ganze (mehr oder minder) "ernst" angehen. Die Schweden machen keinen Hehl aus ihrem Hang zum Kitsch, davon zeugen bereits das pink- und lila-dominierte Backdrop (natürlich mit Drachen) und die semiguten Fantasy-Kostüme. Wer dann immer noch nicht überzeugt ist, wessen Geistes Kind TWILIGHT FORCE ist, der wird spätestens nach dem Verteilen von aufblasbaren Plastikschwertern für die ersten Reihen oder dem Wettrennen zweier Fans auf Luft-Drachen keine weiteren Fragen mehr haben. Oder er könnte auch ganz einfach die Lauscher aufsperren, denn das ist RHAPSODY OF FIRE zum Quadrat mit Disney-Appeal – und zwar in vollkommen großartig. Klasse Songs, mit super viel Spielfreude und Leichtigkeit präsentiert, immer wieder Flitzefinger, da schließen sich die neuen Nummern vom auf dem BREEZE veröffentlichten "Dawn Of The Dragonstar" (thematisch vollkommenes Neuland!) nahtlos an die alten Kracher an. Entweder kann man über das Herumgehampel auf der Bühne lachen – oder man ist super genervt. Entweder man reibt sich komplett mit dem ganzen musikalischen Zuckerguss ein – oder man rutscht darauf aus. Ich gehöre jeweils zur ersten Kategorie und danke TWILIGHT FORCE für einen exzellenten Auftritt und einen märchenhaften Start. Ich gehe jetzt Drachen reiten.
[Oliver Paßgang]
Nach den Fantasy-Scherzkeksen und ihrer Kitsch-Sause geht es auf der Hauptbühne weiter mit VERSENGOLD. In der Mittelalterszene gibt es eigentlich die Tollen und die Peinlichen. VERSENGOLD ist beides, toll mit 'Durch den Sturm' und vergessenwürdig in der zwanghaften Gute-Laune-Nummer 'Thekenmädchen', bei der mir nur der tolle nordische Akzent von Malte Hoyer gefällt. Inhaltlich kann man es so zusammenfassen: Möglicherweise alkoholkranker Papa nimmt seinen minderjährigen Spross mit in die Eckkneipe, wo er in angesäuseltem Zustand die Thekenkraft anmacht. Da sind die emotionalen Nordseeküsten-Texte der Band wie 'Durch den Sturm' oder die Moor-Mär 'Teufelstanz' schon ein anderes Kaliber. Im Wechselspiel zwischen Rock und Schlager, zwischen hübschen Nichtigkeiten und energischen Statements wie 'Braune Pfeifen', hinterlässt VERSENGOLD bei mir einen zwiespältigen Eindruck, diesbezüglich müsste die Kapelle viel häufiger 'Butter bei die Fische' geben. Aber hey, singende Menschen, kühles Bier und eine tanzende Menge, was interessiert's, hier verbreiten sechs Bremer Stimmung und das möchte ich in keiner Weise trüben. Zumal ich nur den halben Gig sehen kann, dann muss ich wieder los, denn auf der T-Stage wird gleich richtig hart gerockt werden!
Auf der T-Stage folgen darauf die Schweden MUSTASCH, die den Energielevel der Wera Tool Stage natürlich halten wollen. Wobei das allerdings nicht ganz funktioniert, einfach weil die größere Bühne und die damit größere Distanz zum Publikum den Funken nicht so leicht überspringen lässt. Das ist aber auch das einzige Manko des Auftritts, der die über zwanzigjährige Geschichte der Göteborger in fün fundvierzig Minuten zu gießen versucht. Das ist selbstverständlich ein vergebliches Unterfangen, aber die Best-Of-MUSTASCH-Show zeigt trotzdem, dass die Jungs mittlerweile eine Phalanx an Hard-Rock-Hymnen am Start hat, die sich hören lassen kann und die an diesem Tag obendrein dramaturgisch gut zusammengestellt ist und einen spannenden Gig produziert. Dazu kommen witzige Ansagen auf Deutsch und Englisch oder auch mal beides, was in einen kleinen Englischkurs mündet, in dem uns erklärt wird, dass "Blood In Blood Out' auf Deutsch "Blut rein, Blut raus" bedeutet und auf die "MUSTASCH, MUSTASCH"-Rufe kontert Sänger Ralf Gyllenhammar cool mit "korrekt". Ein sehr gelungener Auftritt zwischen Metal, Garagenrock und Jack Daniels zur Mittagszeit.
Schon als AVATAR auf die Bühne kommt, ist klar, dass die Zuschauer sich auf eine ordentliche Show einstellen können. Während der Schlagzeuger hinter seinem Kit in abgehackten Bewegungen den Dirigenten mimt, bevor er mit dem Song 'Hail The Apocalypse' das Set einleitet, präsentiert sich Sänger Johannes Eckström mit Facepaint und langem Gewand als eine Mischung aus Marilyn Manson und Zirkusdirektor. Die Kleidung der Musiker ist eine wilde Mischung aus Uniformen zur Zeit des alten Fritz und Richard Löwenherz'. Doch bei all der Show können sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Musik seit der letzten Platte "Avatar Country" noch vielseitiger geworden ist. Die Bandbreite, die in der knappen Stunde durch ihre Lieder abgedeckt wird, reicht von lässig-amerikanisch und bassgetrieben-vergnüglich über episch-theatralisch bis hin zu mit Growls untermaltem Geknüppel. Es scheint für jeden etwas dabei zu sein, denn der Platz vor der riesigen Bühne ist gut gefüllt. Zwischen den Songs und seinen Showeinlagen mit Michael Jackson-ähnlichen Kicks und Ansagen, die Nervenheilanstalt-Atmosphäre erzeugen sollen mit Sprüchen wie "do what the voices tells us to do, create Chaos, start a fire and let it burn!", findet Sänger Eckström sogar noch Zeit zum Umzuziehen. Er bezeichnet das Publikum als "Freaks", schüttelt mit herausgestreckter Zunge den Kopf im Takt der Doublebase und kann sich bei den Ansagen nicht zwischen Deutsch und Englisch entscheiden - und die Menge feiert ihn und seine Mitstreiter dafür. Als das Konzert schließlich mit 'Smells Like A Freakshow' endet, muss man sagen, dass die Metaller aus Schweden durchaus zu unterhalten wissen - auch wenn die Musik teilweise zur Nebenrolle wird.
[Lutz Kempf]
Es ist doch überraschend warm, als ich mich vor der T-Stage zu einem weiteren (technischen) Death Metal-Fest einfinde: DECAPITATED aus Polen steht auf den Brettern und haut dem geneigten Zuhörer seine technisch hoch komplexen Kompositionen um die Ohren. Zu Beginn ist im Verhältnis des Fassungsvermögens vor der T-Stage doch überraschend wenig los, das habe ich bei DECAPITATED schon anders erlebt. Scheinbar weckt der kompromisslose Krach (im positiven Sinne) der Jungs um Rasta-Mann Rafał Piotrowski dann aber doch noch bei dem ein oder anderen Hartwurst-Fan Interesse, denn nach und nach füllt es sich etwas mehr. DECAPITATED startet das Set mit für ihre Verhältnisse doch eher eingängigeren Titeln wie 'One Eyed Nation' und 'Kill The Cult', bevor man sich immer weiter in der eigenen Diskografie in die Vergangenheit hangelt. Zwischenzeitlich fängt auch die Meute an, sich mehr auf die Musik der Polen einzulassen, es bildet sich ein kleiner Circle Pit gefolgt von einer Wall of Death. Vom 2009er Output "Carnival Is Forever" bekommt die Menge das richtig geile 'Homo Sum' in die Gehörgänge geballert, bevor die Jungs im letzten Drittel des Sets die Songs auspacken, die DECAPITATED den hohen Stellenwert, den sie im technischen Death Metal genießen, eingebracht hat. Ich bin wieder mal verblüfft, welche Fähigkeiten da an den Instrumenten schlummern, wenn ich DECAPITATED sehe. Die Präzision, mit der Drums und Leadgitarre hier ein brutales Stakkato nach dem anderen feuern, ist einfach richtig hohes Niveau. Als Rauswerfer bekommt die leider immer noch überschaubar große Menge 'Winds Of Creation' vom gleichnamigen Debutalbum zu hören, bevor Stille vor der T-Stage herrscht. Insgesamt liefert DECAPITATED einen guten Gig vor leider verhältnismäßig wenig Zuschauern ab. Das tut der Qualität, die hier geboten wurde, aber keinen Abbruch.
[Hagen Kempf]
Kurz vor vier folgt dann eine Reise zurück in die eigene Jugend, als es noch lange vor der Erfindung von Nu Metal oder Metalcore eine Stilrichtung namens Crossover gab. Von einem der Vertreter, CLAWFINGER, hat man seit über zehn Jahren bis auf eine Single kaum noch etwas gehört. Als das an James Bonds 'Goldfinger' angelehnte 'Clawfinger'-Intro ertönt, sind die Schweden aber tatsächlich wieder zurück und haben trotz leicht ergrauter Haare kaum an Spritzigkeit verloren. Sänger Zak scherzt auch sogleich, wie alt er geworden sei und zeigt den Fans als Beweis seine kleine Plauze. Basser André dreht sich zwar nicht mehr wie früher permanent headbangend im Kreis, nutzt dafür aber die volle Bühnenbreite inklusive der seitlichen Ausläufer, um die Menge anzuheizen. Auch Keyboarder Jocke geht mit dem Mikro zwischendurch breitgrinsend auf Wanderschaft, während Zak die erste Reihe abklatscht. Musik wird natürlich auch geboten, wobei nach über zehn Jahren eigentlich jeder dargebotene Song ein Klassiker ist. 'Nigger' oder 'The Truth' dürfen ebenso wenig fehlen wie der Rausschmeißer und einstige Megahit 'Do What I Say'. "When I grow up there will be a day…". Einzig ihren letzten MTV-Rotierer 'Out To Get Me' dürfte manch jemand vermissen, was allerdings nichts an einem absolut energiegeladenen Gig ändert. Was für eine Zeitreise!
Am Nachmittag stehen nach CLAWFINGER dann KVELERTAK auf der Main Stage, um uns mit rotzigem Punk 'n' Black 'n' Roll einzuheizen. Interessant ist dabei natürlich die Fragestellung, wie KVELERTAK den Weggang von langjährigem Schreihals Erlend Hjelvik verkraftet hat. Um es vorweg zu greifen: Ivar Nikolaisen als neuer Shouter gibt sich während des kompletten Sets keine Blöße und singt und schreit sich souverän durch den KVELERTAKschen Songkatalog. Wir hören unter anderem 'Nekroskop' und 'Fossegrim', aber auch Hits wie 'Mjød' und 'Blodtørst' kommen nicht zu kurz. Insgesamt ist besonders zu Beginn gemessen an der Größe des Publikumsbereichs vor der Mainstage verglichen zu AVATAR deutlich weniger los, auch dauert es ein wenig, bis die Menge ordentlich in Stimmung kommt. Dann allerdings bilden sich immer mehr Circle- und Moshpits, das Publikum geht immer besser mit. Nicht zuletzt hängt dies auch mit Ivars ruheloser Bühnenpräsenz zusammen, der sich sein Feierabendbier an diesem Tag durch engagiertes Auf-und-Ab-Rennen auf der riesigen Stage durchaus verdient hat. Als Sahnehäubchen, quasi um jede Zweifel am Besetzungswechsel auszuräumen, crowdsurft er dann noch selbst - mit Mikro am Kabel wohlgemerkt. Das Publikum dankt es und feiert KVELERTAK gebührend. Abgesehen von kleineren technischen Problemen und kurzen Ausfällen liefern die Norweger eine unterhaltsame Show mit akzeptablem Sound ab und haben die Massen gut unterhalten.
[Hagen Kempf]
Ich sitze sinnlos im VIP-Bereich rum. Da könnte ich doch auch LIK schauen gehen, oder? Gesagt, getan. Fetter Death Metal mit mächtigen Riffs, mal pfeilschnell, aber auch gerne im Midtempo, dazu ganz feine Gitarrenarbeit. Das ist ganz schön gut, vor allem, weil es ja sonst nicht ganz meine Baustelle ist. Der Sänger ist auch nicht völlig unverständlich und zudem äußerst souverän. Ein Problem mit dem Mikroständer, der seinen Job nicht erfüllt, lächelt er einfach weg und singt weiter, während ein Roadie ein neues Exemplar auf die Bretter stellt. Gute Band, gute Stimmung, guter Sound in einem Old-School-Death-Gewand. Ja, so mag ich auch mal Death Metal. Warum gerade LIK, kann ich nicht sagen, aber ich genieße jetzt mal eine halbe Stunde etwas, was ich sonst selten höre.
Danach geht es wieder rüber zur T-Stage zum West Coast Hardcore von LIONHEART. "Na jetzt gibt es etwas zu tun!" sage ich zu den Grabenschlampen. "Endlich!" kriege ich zurück. Die Jungs sind gelangweilt, aber das wird sich jetzt geben, denn es ist Zeit für Crowdsurfer und Circle Pits. LIONHEART bringt uns die bewährte Mischung aus dicker Hose und Core-Gebrüll, etwas weniger gehetzt als viele ihrer Konkurrenten, mit etwas Melodie, aber eher viel Shouts. Irgendwo zwischen total cool mit Zahnstocher im Mund und typischer Core-Animation. "This is west coast" und "Jump, jump, jump" inklusive Wall of Death. Nett ist, dass der Sänger die kommenden Bands bewirbt. Trotzdem bedarf es nach einigen Songs einer gesonderten und unmissverständlichen Aufforderung zum Mitmachen, als das Publikum nachlässt. Wie es scheint, sind fünfundvierzig Minuten etwas viel für die Band aus Kaliforien, die man tunlichst nicht mit den gleichnamigen UK-Hardrockern verwechseln sollte, das könnte zu erschrockenen Gesichtern führen. Zum Abschluss bringt die BEASTIE BOYS-Coverversion von '(You Gotta) Fight for Your Right (To Party!)' - na, ja, oder auch nicht, denn das Stück wird nur angespielt. Schade, damit hätte man die Stimmung sicher noch steigern können, aber auch so dürfen sich die US-Amerikaner über ordentlichen Zuspruch freuen.
Als das richtige Hardcore-Abrisskommando entpuppt sich dann GET THE SHOT, die mir bisher unbekannt sind, aber nach der Ankündigung der LIONHEARTler gleich mal grob in die Core-Schublade gesteckt werden. Und wie sie da hinpassen! Die Burschen kommen auf die Bühne, riffen los und dann kommt Sänger Jean-Philippe Lagacé und das Chaos beginnt. Was geht denn hier ab? Im Publikum gibt es nahezu ohne Verzögerung einen Circle Pit und dann springt der Sänger von der Bühne, auf die Absperrung und feuert die Meute erst richtig an! Als er dann selbst ins Leibermeer springt, kann der Energielevel gar nicht mehr weiter steigen. Eine Urgewalt, bei der die eigentlichen Lieder weniger wegen ihrer Melodie, als wegen ihres Aggressionslevels geschätzt werden. Obwohl Viele die Shouts mitmachen können. Die Grabenschlampen haben alle Hände voll zu tun und ich mache ihnen Platz und verdrück mich weiter nach hinten und schaue mir das Spektakel aus sicherer Entfernung an. Hier bebt wirklich alles.
Es ist aber auch ein Kreuz mit den vielen Bühnen. UNEARTH und TESTAMENT überschneiden sich. Da ich erst bei den Metalcor'lern fotografiere, verpasse ich den Anfang der Thrasher. Aber die habe ich eh schon einige Male gesehen, denke ich mir. Doch was höre ich, als ich zum Battlefield eile? Spielen die da tatsächlich 'Electric Crown'? Ja, ich gehöre tatsächlich zu der Minderheit, die "The Ritual" für ein absolut brillantes Album hält, und dementsprechend enttäuscht war ich in den letzten Jahren, dass besonders dieses Lied nicht als Bandklassiker gesetzt war. Doch TESTAMENT anno 2019 scheint mit einer neuen Selbstsocherheit aufzutreten, denn natürlich werden die Stimmen, die 'Burnt Offerings' oder 'Apocalyptic City' vermissen, laut sein. Aber wie soll diese Band auch alle wichtigen Lieder in einer Stunde unterbringen? Keine Chance. Es folgt 'Practice What You Preach' und auch das ist nicht selbstverständlich. Danach geht es aber ins Eingemachte und die ersten beiden Scheiben, die den Ruhm der Kalifornier begründete, werden mit drei Brechern bedacht. Sänger Chuck Billy ist weiterhin das Kraftpaket, als den man ihn kennt, und post mit seinem abgesägten Mikrostöckchen, was das Zeug hält. Der charismatische Hüne hat das Publikum fest im Thrash-Griff und bildet das Zentrum des Geschehens, während die beiden altgedienten Gitarristen Eric Peterson und Alex Skolnick die bekannten Riffs klar und rasiermesserschaft in die Landschaft holzen. Weitere Show gibt es keine, die braucht TESTAMENT auch nicht, hier herrscht Thrash pur. Das neue Selbstvertrauen drückt sich auch darin aus, dass der Abschlusssong der Titelsong des 2008er Albums "The Formation Of Damnation" ist, so als wollten sie sagen, hey, die Lieder von vor zehn Jahren sind auch schon Klassiker! Wer wollte ihnen da widersprechen?
Inzwischen muss man UNEARTH ja schon fast als "Old School Metalcore" bezeichnen. Leider chronisch unerfolgreich dazu, die Gründe dafür sind auf vielen Ebenen zu suchen. Mir egal – und wunderbarerweise extrem vielen Anderen auch (übrigens ebenfalls den Veranstaltern, wie man an den sechzig Minuten Spielzeit und einem richtig guten Slot sehen kann). Einmal mehr reißen die Herren das SUMMER BREEZE so richtig ab, die ihren Sound (entgegen meiner obigen Kategorisierung) etwas moderner, ich möchte fast sagen "djentiger", eingestellt haben, was quasi allen Nummern noch einmal viel mehr Wucht gibt. Das bunte Set aus Neu und Alt kommt bestens an, die Meute geht steil, und man merkt deutlich, dass die Amis vor solch einer Kulisse nicht (mehr) allzu oft spielen. Gern geschehen! Persönlich freue ich mich sehr über 'Watch It Burn' sowie natürlich die gesammelten Gassenhauer von "The Oncoming Storm". So geht nach einer Stunde mit 'One With The Sun' ein ungeschminkter, direkter und richtig guter Auftritt zu Ende, der Vorfreude auf die Tour mit AS I LAY DYING im Herbst weckt.
[Oliver Paßgang]
BREEZE in Flammen – auch wenn dieses Wortspiel bei IN FLAMES zum Glück nicht wörtlich zu nehmen ist, zünden die Schweden ein Feuerwerk der lauten Musik. Als Einstieg hierzu dient 'Voices' vom neuesten Album "I, The Mask", gefolgt von 'Everything's Gone'. Bei 90 Minuten Spielzeit ist für jeden Geschmack etwas dabei, schließlich blickt IN FLAMES nun schon auf eine fast dreißigjährige Bandgeschichte zurück mit teils unterschiedlichen Genres. Bei 'Pinball Map' lösen sich für das Publikum letztendlich die Ketten und es wird dichter im Moshpit. Dabei seien auch mal Sänger Anders Fridéns stimmliche Patzer und Teilaussetzer dahingestellt, es scheint wohl nicht hundertprozentig sein Abend zu sein. Als abendfüllender Co-Headliner ist IN FLAMES inklusive Bühnenperformance dennoch für die alten Hasen oder die Neueinsteiger DAS Erlebnis. Fridén bezieht immer wieder das Publikum mit ein, indem er zum Mitsingen animiert. Wirklich im Mosphit geflogen oder gesurft wird bei 'Colony' vom gleichnamigen 1999er Album, was auch mein persönlicher Favorit an diesem Abend ist. Damit beweist die Truppe auch zugleich, dass sie die alten Schinken noch kann. Nach diesem "Mosphit-Rasenmäher" schließen sich dann auch gleich 'The Truth', 'I Am Above' und 'Cloud Connected' an, was den Strom an nach vorne surfenden Menschen nicht abreißen lässt und die Grabencrew für etwa zwanzig Minuten am Schwitzen hält. Den Abschluss gibt es passend mit 'The End' – nein, natürlich kein Cover von THE DOORS – sondern vom hauseigenen "Battles" Album. Durchgeschwitzt und ausgelaugt kann jetzt keiner sagen, dass IN FLAMES eine Fehlentscheidung ist. Selbst für mich, der IN FLAMES schon einige Male gesehen hat, liegt die Skala knapp über dem für IN FLAMES üblichen Durchschnitt. Und zudem recht weit oben auf der allgemeinen Performance-Skala gemessen an allen auftretenden Bands dieses Festivals.
[Benjamin Kutschus]
Auf der Tool Stage wird es jetzt etwas exotischer. Aus Brasilien stammt KRISIUN, eine Death Metal-Band, die gerade die letzten Runden vor dem großen dreißigjährigen Jubiläum dreht. Natürlich denken bei "Brasilien" immer alle an SEPULTURA, aber die Musikszene dort hat noch mehr zu bieten. KRISIUN ist allerdings eine der extremen Spielarten des südamerikanischen Metals, denn hier dominiert Geschwindigkeit und Blastbeats und ein Geräusch-Fronter, dass es wie ein Sturm über die Meute vor der Bühne hinwegfegt. Dabei geht die Band aber nicht immer simpel und direkt zu Werke, Gitarrist Moyses Kolesne spielt deutlich mehr, als ich aus dem wilden Orkan heraushören kann. Was anfangs beeindruckend ist, wird mir allerdings nach ein paar Stücken etwas eintönig, auch wenn die Band nach zwei Speedbrechern einen getrageneren Song einstreut, der offensichtlich 'Blood Of Lions' heißt, in dem der Schlagzeuger einen anderen Song zu spielen scheint als seine Kollegen weiter vorne auf der Bühne. Das setzt sich auch im folgenden Stück fort, das einen ziemlich wilden Death Metal-Mahlstrom darstellt. Ich glaub, ich brauche eine Pause.
In aufziehender Dämmerung finde ich mich an der T-Stage ein, auf der OF MICE AND MEN als nächstes geplant ist. Die Jungs aus Kalifornien um Shouter Aaron Pauley lassen sich auch überhaupt nicht lumpen und starten direkt mit 'Warzone' vom 2018er Album "Defy". Von Anfang an wird klar, dass hier Fachleute zu Gange sind: Drummer David Velentino Arteaga ist extrem präzise unterwegs, auch die beiden Gitarristen wirken extrem routiniert. Selbst der Tour-Basser Raad Soudani überzeugt mit einer Lässigkeit und Lockerheit, dass es einfach nur Spaß macht, den Amerikanern bei der Arbeit zuzusehen. Auch Aarons Gesang überzeugt auf ganzer Linie, die Screams und klaren Gesänge sind sehr gut abgemischt und gelingen Aaron live auch in den klaren Parts herausragend gut. Auch schüttelt er den ganzen Gig mit einer gewissen Leichtigkeit aus dem Ärmel. So fängt er beispielsweise während des Shoutens eine Frisbee aus dem Publikum und schmeißt sie zurück, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Das Publikum dankt ihm das mit einem riesigen Pit und mehreren Circles. Insgesamt ist die Show sehr gut besucht, es ist wirklich ziemlich voll vor der T-Stage. Leider hält der Sound nicht ganz die hohe Klasse der Performance. Die Lautstärke ist extrem hoch und dadurch gehen doch einige Details verloren. Im Laufe des Sets ändert sich dies noch ein wenig zum Besseren, aber insgesamt ist die Qualität des Tons nur durchschnittlich. Zusammengefasst macht OF MICE AND MEN hier aber alles richtig und liefert eine tolle und souveräne Show ab.
[Hagen Kempf]
Inzwischen ist es zwar nicht mehr meine Musik, aber als Kenner und früherer Fan der ersten beiden AVANTASIA-Platten lockt es mich abends dann doch zur Hauptbühne. Tobias Sammet, Sänger der Band EDGUY, hat sich in diesem Projekt seinen Traum erfüllt: Einmal mit den Idolen seiner Jugend zusammen auf der Bühne zu stehen. Herausgekommen ist eine Art Metal-Musical, in dem sich hochkarätige Sängerinnen und Sänger auf der Bühne die Klinke in die Hand geben. Los geht es mit einem Intro von Beethovens 'Ode an die Freude'. Das riesige Banner fällt und gibt den Blick auf die Bühne frei, während 'Ghost In The Moon' das Set mit MEAT LOAF-ähnlichen Klängen eröffnet. Sammet trägt gewohnt exzentrisch ein Glamour-Metal-Outfit mit Lockführermütze und natürlich darf auch das Kopftuch mit Kuhmuster nicht fehlen. Unterstützt wird er von Ina Morgan, Adrienne Cowen - zuständig fürs Shouten - und Herbie Langhans, die zu dritt die Background Vocals übernehmen. In verschiedenen Aufstellungen ergänzen sie das ein bisschen an Harry Potter erinnernde Bühnenbild. Egal ob Geoff Tate von QUEENSRYCHE, Eric Martin von MR. BIG oder Altmeister Bob Catley, sie alle sind mit von der Partie und liefern genau wie Sammet mit seiner gut ausgebildeten Stimme gesanglich eine 1-A-Show ab. Auch die Einstellung des Sounds ist von Anfang an hervorragend. Schade nur, dass das Echo vom FOH den einen oder anderen Song mit einem hässlichen Hintergrundrauschen verziert. Zusammen singen sie sich, mal einzeln, mal gemeinsam, durch die verschiedenen Alben AVANTASIAs: Von "The Metal Opera" bis zum neuesten "Moonglow" sind sie alle vertreten. Ich selbst komme beim Uptempo von 'Reach Out For The Light’ zusammen mit meinem Death-Prog-Bär von großem Bruder sogar ins Mitsingen. Aber Balladen wie ‘Invincible' und auch der Höhepunkt des Abends mit 'The Story Ain't Over' sind für meinen Geschmack dann doch etwas zu nah am Eurovision Songcontest, für den sich Sammet mit AVANTASIA 2016 beworben hatte. Sammet, der zwischenzeitlich die von ihm komponierte Musik scherzhaft als "Schlager" bezeichnet, ist in seinen Ansagen gewohnt souverän. Auch einen Sturz auf der Bühne verarbeitet er mit einem Seitenhieb auf Fußballer de Mayo lässig zum Amüsement des Publikums von schätzungsweise 30.000 Menschen. Das gibt sich während des Konzertes verträumt interessiert. Ich sehe viele Pärchen, die eng umschlungen beisammen stehen und den mal rockigen, mal ruhigen, aber stets harmonischen Klängen der Metaller lauschen. Der Nebeneffekt: Bei der Zugabe muss Sammet der Menge mehrfach einheizen, weil sie etwas zu müde ist, um den Titel 'Lost In Space' mit ankündigen zu wollen. Auch beim Nachsingen von "Ole, wir fahren in 'n Puff nach Barcelona" trifft Sammet nicht ganz den Nerv des Publikums, wie es scheint. Nach einem obligatorischen Selfie auf der Bühne gibt es mit 'Sign Of A Cross/The Seven Angels' dann zum Schluss nochmal ein pompöses Ende und im Flackern der Scheinwerfer schließen sich die Türen zur Fantasiewelt AVANTASIA in Dinkelsbühl wieder.
[Lutz Kempf]
Zur Primetime am Donnerstag steht dann die US-Death-Institution DEICIDE um Skandalnudel Glen Benton auf der T-Stage. Auch DEICIDE gibt es schon annähernd dreißig Jahre, entsprechend routiniert wird auch hier dargeboten. Glen und seine Jungs ballern und schrammeln sich querbeet durch die Geschichte der Band, wir bekommen Songs wie 'Dead By Dawn' vom Erstling der Amis um die Ohren, aber auch neuere Stücke wie 'Seal The Tomb Below'. Nicht gegeizt wird erwartungsgemäß auch mit Tod-und-Teufel-Rhetorik, die Satanismus-Kindereien-Toleranzgrenze wird hier wie vorherzusehen bis in die äußerste Schmerzgrenze ausgereizt. 'Scars Of The Crucifix', 'When Satan Rules His World', 'Kill The Christian': hier würde jedem ausgewachsenen Misanthropen und Nihilist das Herz vor Freude aufgehen, wenn er denn sowas wie Freude empfinden kann (und er ein Herz hätte). Vor Glens berühmt berüchtigten Bühnendarbietungen aus vergangenen Zeiten (beispielsweise Selbstbranding) wird glücklicherweise abgesehen, scheinbar wird selbst der fieseste Satans-Exzentriker irgendwann "normaler". Leider hat der Technik-Herrgott bei DEICIDE kein Erbarmen, die Qualität des Tons ist ziemlich mies. Anfangs ist Glens Gesang insgesamt viel zu leise, anschließend stimmt das Verhältnis der Lautstärke von Screams und Growl einfach überhaupt nicht. Die Screams kommen irre Laut aus der PA, die Growls gehen zum Teil im Double-Bass Teppich unter. Auch ist, gemessen an der Popularität, die DEICIDE einst genossen hat, wirklich sehr wenig los. Man merkt auf dem diesjährigen SBOA doch, dass traditioneller Death Metal momentan generell einfach weniger Leute zieht als noch vor zehn Jahren. Ähnliches Schicksal werden später auch UNLEASHED erleiden, aber dazu später mehr. Trotzdem liefern Glen und seine Jungs eigentlich ein solides Death-Metal-Brett alter US-Schule ab, schade, dass der Sound dabei so mies ist.
Parallel zu MESHUGGAH steht DOWNFALL OF GAIA auf der Wera Tool Rebel Stage und gibt dort ein Lehrstück in Sachen Post Black Metal zum Besten. Erst im Nachhinein erfahre ich, dass die Band auf die Unterstützung eines Gastmusikers zurückgreifen muss, um den Ausfall von Gitarrist Marco Mazzola zu kompensieren. Ich muss zugeben, aufgefallen ist mir das während der Show nicht. Dies liegt sicherlich auch an der atmosphärischen Show, welche die Jungs auf der Stage darbieten. Fast der komplette Gig ist vernebelt und wird mit Strobo und Backlights untermalt, wie das im Post Metal nun mal so üblich ist. Und das sieht halt auch einfach geil aus! Bis auf einen Song ('As Our Bones Break To The Dance') wird der aktuelle Output "Ethic Of Radical Finitude" dargeboten, der Sound ist akzeptabel bis gut. Nicht so gut ist ein Problem, das mir auf dem diesjährigen Summer Breeze öfter widerfahren ist: Durch die hohen Lautstärken, die zur Beschallung der vielen Besucher nötig ist, kommt es immer wieder zu Überlagerungen zwischen den Bühnen. So werden die ruhigeren, atmosphärischen Parts der komplexen Musik von DOWNFALL OF GAIA immer wieder durch die Math-Core-Breaks von MESHUGGAH unterbrochen. Der hohen Qualität der Show tut das keinen Abbruch, ist aber leider ein Wermutstropfen. Die Jungs wirken trotz der Besetzungsprobleme jederzeit souverän, besonders Drummer Michael Kadnar fällt extrem positiv aus. Michael hat die Schießbude so extrem sicher im Griff, dass ihm, anders als bei anderen Genre-Kollegen, sogar noch die Zeit bleibt, ausgiebig zu Moshen und das Kit mit aller zur Verfügung stehenden Kraft zu malträtieren. Wo im Extreme-Metal während Blastbeats häufiger der Typ "Busfahrer" an den Drums anzufinden ist, performt Michael eher wie im Glam-Rock mit ausladenden Gesten. Wie er dies ohne Sauerstoffzelt hinbekommt, ist mir ein Rätsel, es verdient aber allerhöchsten Respekt. Insgesamt liefert DOWNFALL OF GAIA eine extrem atmosphärische, unterhaltsame Show, die es schafft, die stattlich große Menge zu begeistern. Job well done!
[Hagen Kempf]
Verantwortlich für die kleineren Störungen bei DOWNFALL OF GAIA ist eine extrem komplexe Soundwand, die parallel von der Mainstage drückt: Die Death-Progger MESHUGGAH machen mit ihren jazzigen Polyrhythmiken und tiefergestimmten Achtsaitern bei ihrer BREEZE-Premiere vom Start weg keine Gefangenen! Songs wie 'Pravus' und 'Born In Dissonance' sorgen sogleich für runterhängende Kinnladen beim Publikum, das sich nach dem vorangegangenen AVANTASIA-Auftritt einer Völkerwanderung gleichend komplett ausgetauscht hat. Vier Songs dauert es, bis sich der starr in die Menge blickende Fronter Jens Kidman zu Wort meldet. "What? I say what?" Songansagen bedarf es ebenso wenig wie besonderem Stageacting, die Musik spricht einfach für sich. Hinzu kommt eine für Fotografen zwar nervige, aber optisch sehr anspruchsvolle Bühnenbeleuchtung: Die Strobos flackern im ständig wechselnden Rhythmus, während die Deckenstrahler passend zu den Gitarrenakkorden hin und her schwenken. Respekt für den Lichttechniker! Erwähnenswert ist natürlich auch die beeindruckende Bühnendeko, die mit ihren großflächigen Alien-Gemälden einer Leihgabe des HR Giger-Museums gleicht. "Are you still there?" erkundigt sich Jens augenzwinkernd. "I don't have my glasses on." Mit 'Demiurge' beendet der Schweden-Fünfer nach knapp fünfundsiebzig Minuten dann einen Gig, der reihenweise staunende und beeindruckte Gesichter hinterlässt.
Als das Backdrop mit der Blutgräfin Elisabeth Báthory zum Vorschein kommt und das Intro 'Once Upon Atrocity' ertönt, ist klar, was die Uhr geschlagen hat: Die Briten CRADLE OF FILTH schicken sich an, einen ihrer auserwählten "Cruelty And The Beast"-Gigs zu zelebrieren und ihr 1998er Konzeptalbum eins zu eins am Stück runterzuspielen. Gänsehaut, als nach dem Intro mit 'Thirteen Autumns And A Widow' die erste stark durchdachte Düster-Operette aus den Boxen kracht. Das einzig verbliebene Gründungsmitglied Dani Filth keift und grunzt sich durch die extremsten Stimmlagen, immer wieder von Keyboarderin Lindsay Schoolcraft einer Opernsängerin gleich unterstützt. Neben Danis Schreien mag mancher CRADLE-Kritiker und -Hater zwar das Gepose der Saitenfraktion albern finden, aber sei's drum: Bei dieser Musik werden verdammt nochmal Jugenderinnerungen wach! Erst zum Stöhn-Zwischenspiel 'Venus in Fear' begrüßt Sir Filth das Publikum, dann geht's auch schon weiter im Takt. Ebenfalls einem Opernauftritt gleich gibt es gegen Ende Verbeugungen und Blumen für den weiblichen Bandteil, ehe 'Lustmord And Wargasm' in den restlichen Abend entlässt. Ganz großes Kino!
Eines meiner weiteren Highlights des diesjährigen SBOA ist CASPIAN, für die ich eigentlich am Mittwoch bereits Karten für einen Tour-Gig in München besessen hatte. Spontan wurde entschieden, doch zum SUMMER BREEZE zu fahren und die Karten zu verschenken, auch mit dem Hintergedanken, dass ich hier ebenfalls die Chance haben werde, die US Post-Rocker zu sehen. Wie im Post Metal Gang und Gäbe, lebt die ganze Show wieder von Atmosphäre und der Verwebung von Klang und Bild. Die Zuhörer bekommen eine extrem druckvolle Performance zu sehen, in der auch die hohe Dynamik der Musik der sympathischen Amerikaner nicht zu kurz kommt. Leider ist der Sound insgesamt nicht gut genug, es ist sehr laut, insbesondere der Bass, der viele Details überlagert. Die Songauswahl wiederum ist richtig gut, wir bekommen unter anderem das sich immer mehr zur Schallwand entwickelnde 'Rioseco' zu hören, genau wie das treibende 'Arcs Of Command'. Die Jungs performen dabei wirklich enthusiastisch, visuell hat CASPIAN ebenfalls sehr viel zu bieten. An den Höhepunkten der Songs, die einer ähnlichen Logik in der Songstruktur wie CULT OF LUNA oder ISIS folgen, springen wirklich alle Musiker, so es ihnen möglich ist, im irren Tanz über die Bühne. Und das zu Strobo, Backlight und Nebel, dass es einen wundert, wie hier überhaupt gleichzeitig noch Musik gemacht werden kann. Diese Darbietung weiß durchaus zu begeistern, was die - leider eher wenigen - Fans auch gebührend feiern. Wegen der viel zu kurzen Show und des nicht optimalen Sounds trauere ich doch ein wenig dem verpassten Konzert in München hinterher. Auf einer zukünftigen Tour werde ich es definitiv noch einmal versuchen, CASPIAN ist eine fantastische Live-Band.
Nach einer zehnstündigen Schicht mit durchgehender Beschallung finde ich mich mit ein paar Kollegen zur letzten Show des Tages noch bei ANAAL NATHRAKH ein. Bekannt sind die sympathischen Jungs aus Birmingham UK nicht nur für kompromisslosen Grind, sondern auch für kompromissloses Geballer durch verschiedene Musikrichtungen, der zwar nicht jedermanns Sache ist, aber trotzdem für die Zeit und den Regen eine beachtliche Menge Menschen gezogen hat. Die Musik der Jungs ist schwer einzuordnen, am besten beschreibt es wohl eine Achterbahnfahrt durch einen wütenden Bastard aus Grindcore, Black Metal, Death Metal mit kurzen Momenten, die sogar als Power Metal durchgehen würden. Die halten sich aber sehr in Grenzen, Sänger Dave Hunt kündigt einen dieser Songs mit einem lakonischen "We wrote that song mainly as an alibi for me to sing like Rob Halford!". Insgesamt zeigt sich Dave ziemlich redefreudig und weißt das Publikum gleich zu Beginn darauf hin, dass einer der Gitarristen leider wegen einer Verletzung am Knöchel fehlt. Die Jungs haben sich entschlossen, trotzdem zu spielen - definitiv eine gute Entscheidung. Das Publikum dankt es mit Circle Pits und wildem Gemoshe, auch eine Wall of Death fehlt nicht. Höchsten Respekt hier an die Briten, die Leute nach so einem langen Tag noch so zu aktivieren ist keine leichte Aufgabe. Dave geht im Laufe des Abends noch auf ein paar weitere unterhaltsame Fun-Facts ein, unter anderem kündigt er an, dass es im nächsten "Watchdogs"-Spiel von Ubi Soft einen ANAAL NATHRAKH Song geben wird. Außerdem lässt er eine amtliche Wutrede und metaphorischen Stinkefinger in Richtung 10 Downing Street und den Brexit-Wahnsinn los, bei der man sich denkt, eigentlich sollten mehrere Musiker bei aktueller politischer Entwicklung in der Welt vielleicht mal das ein oder andere Wort verlieren. Dave outet die gesamte Band als Europäer und uns alle als Brüder und Schwestern und bekommt dafür ordentlich Applaus. Leider ist der Sound besonders in der ersten Hälfte der Show eher schlecht, wird aber zum Ende hin deutlich besser. Wir hören Songs querbeet durch den Backkatalog der Briten, unter anderem 'Forward!', 'Hold Your Children Close And Pray For Oblivion' und 'The Joystream'. Insgesamt liefert ANAAL NATHRAKH eine engagierte und energiegeladene Show ab, der man kaum anmerkt, dass sogar ein Musiker fehlt. Definitiv eines meiner Highlights bisher.
[Hagen Kempf]
- Redakteur:
- Frank Jaeger