Strange Circus
- Regie:
- Sion Sono
- Jahr:
- 2005
- Genre:
- Drama
- Land:
- Japan
- Originaltitel:
- Kimyô na sâkasu
2 Review(s)
08.04.2007 | 17:16Hintergrund
Sion Sono gehört zu den kontroversesten und erfolgreichsten Kunstschaffenden Japans. Neben seiner Affinität für Poesie arbeitet er auch als Regisseur, Drehbuchschreiber, Kameramann, Komponist und Schauspieler. Damit deckt er alleine fast die gesamte Bandbreite der Filmkunst ab.
Neben vielen kleinen Produktionen und Veröffentlichungen machte Sono 1997 im großen Stil von sich reden. Sein Projekt "Tokyo GAGAGA", eine kontroverse Guerilla-Aufführung mitten in der Innenstadt Tokios, katapultierte ihn mit einem Schlag ins Rampenlicht der japanischen Dichtergemeinschaft.
Filmisch gelang ihm im Jahr 2002 der Durchbruch. Sein Werk "Suicide Circle", ein Thriller über die überdurchschnittlich hohe Selbstmordrate in Japan, fand neben seiner Heimat auch ein sehr großes internationales Publikum.
Mit seinem 2005er Output "Strange Circus" sollte sich sein Bekanntheitsgrad noch weiter steigern.
Handlung
Als die 12-jährge Mitsuko (Rie Kuwana) komische Geräusche aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern hört, packt sie die Neugierde. Durch einen Spalt erspäht sie, wie ihre Eltern gerade miteinander schlafen. Als ihr Vater dies bemerkt, beginnt Mitsukos Martyrium.
Er sperrt sie in einen Cellokoffer und zwingt sie, von dort aus ihren Eltern beim täglichen Geschlechtsverkehr zuzusehen. Nach einer Weile langweilt den alten Mann das Spiel jedoch, weshalb er Mitsuko und ihre Mutter die Rollen tauschen lässt. Von nun vergewaltigt er seine eigene Tochter und lässt das Ganze von seiner Frau aus dem Cellokoffer heraus beobachten.
Diese ungeheuren Geschehnisse beschreibt das neue Buch von Japans Kultautorin Taeko (Masumi Miyazaki). Die mysteriöse und an den Rollstuhl gefesselte Schriftstellerin ist für ihre kontroversen Werke bekannt. Keiner ihrer zahlreichen Leser und nicht einmal ihr eigener Verleger kennen die Frau genauer.
Taekos Assistent Yuji (Issei Ishida) will das Mysterium um die Autorin lüften. Sind die Ereignisse in ihrem letzten Roman wirklich reine Fiktion, oder beschreibt Taeko ihre eigene, qualvolle Kindheit? Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion scheinen zu verschwimmen ...
Kritik
"Strange Circus" schafft es, den Zuschauer bereits nach einer halben Stunde völlig zu verstören. Die rauen Sexbilder in ihrem kranken Kontext haben eine eindringlichere Wirkung als die derben Gewaltexzesse eines Takashi Miike!
Nach dem Grand-Guignol-esken Intro, in welchem die wichtigsten Protagonisten vorab eingeführt werden, beginnt umgehend der häusliche Schrecken durch den perversen Vater. Drehbuchautor, Kameramann und Regisseur Sono zeigt in sehr eindringlichen Bildern die raue Misshandlung der 12-jährigen Mitsuko, wobei er sich bei der Darstellung eines kleinen psychologischen Tricks bedient. Während der Akte zeigt er, wie die kleine Mitsuko in die Haut ihrer Mutter schlüpft, um die Kopulation voll einzufangen.
Kurze Zeit später offenbart sich der weitere Schrecken der Kleinen. Eifersüchtig auf die eigene Tochter, beginnt Mitsukos Mutter sie zu misshandeln, zu schlagen und zu erniedrigen. Nach einer kurzen Zeit eskaliert die Situation, mit schlimmen Folgen für die Beteiligten.
An dieser Stelle macht der Film einen deutlichen Sprung. Von nun an begleitet man die Schriftstellerin Taeko und erfährt, dass das zuvor Gesehene bloß der kranken Fantasie der Autorin entsprungen ist. Immer wieder werden Bilder der sadistischen Sexspiele eingestreut, deren Intensität sogar sukzessive gesteigert wird. Schon bald fragt sich der Zuschauer, ob das Gesehene lyrische Fiktion oder filmische Wahrheit zeigt.
Im Verlauf wird zunehmend der anfangs erwähnte Grand-Guignol-artige Zirkus gezeigt. Stilistisch bilden diese Episoden das krasse Gegenteil zur Haupthandlung. Bunte, leuchtende Farben, obskure Zirkusgestalten und eine ausgelassene Stimmung verdeutlichen den Kontrast zur grausamen Realität. Dort zeigen die Figuren der Haupthandlung ihr wahres Gesicht und ihre eigentliche Befindlichkeit.
Wieder in der Realität angekommen, nimmt der Plot an Fahrt auf. Was hat es mit der Schriftstellerin Taeko auf sich? Warum heißen alle ihre Protagonistinnen Mitsuko? Und was führt der asexuelle Yuji im Schilde?
Es ist die Kunst Sion Sonos, all diese Fragen zu beantworten und zu einem gelungenen Ganzen zu verbinden. Der finale Twist hat es dann noch einmal ähnlich in sich wie die erste halbe Stunde. Zum sadistischen, inzestuösen Sex der ersten Minuten gesellt sich drastische, grafische Gewalt in den letzten Minuten. Was sich dem Zuschauer offenbart, geht an die Grenzen des Erträglichen und dürfte wohl vielen Zuschauern den Rest geben!
Sono spielt regelrecht mit den Nerven seines Publikums und zeigt intensiv, was nicht sein darf. Die grotesken und bizarren Bilder, nah an der Abartigkeit, zeigen das Schlimmste im Menschen, die Abgründe, die viele lieber leugnen würden. Dabei setzt er die schon von Miike bekannten drastischen Extreme des Geschlechtsakts und der puren Gewalt ein. Das eigentlich Normale wird in zirkusartigen Bildern gezeigt, die Realität versinkt in der Abartigkeit der menschlichen Abgründe.
Filmisch verpackt Sono sein 'perverses Fest der Liebe' in schönen Bildern, die gerade am Anfang durch eine innovative Kameraführung glänzen. Doch erst durch den außergewöhnlichen Schnitt wird "Strange Circus" zu dem, was er ist. Rückblenden, Einblendungen, Traumsequenzen, Buchszenen, der Zirkus - durch den gekonnten Ebenenwechsel verliert sich der Zuschauer zusehends im wilden Filmtreiben, um am Ende ähnlich ahnungslos zurückgelassen zu werden wie die Protagonistin.
Zuletzt sollte auch der grandiose Score genannt werden, dessen Bach-Klänge einen wesentlichen Beitrag zur bizarren Atmosphäre beitragen.
Die DVD
Das Bild (1,85:1) ist leider wenig berauschend. Dem Material mangelt es durchweg an Schärfe, der Kontrast ist merklich zu hoch angesetzt. Ferner stört ein deutliches Bildrauschen das Filmvergnügen, das zudem noch von leichten Bewegungsunschärfen begleitet wird. Die Farben sind konsequent verfremdet worden, was dem Film seine eigene Note gibt.
Der Ton (Deutsch, Japanisch DD 5.1) fällt erwartungsgemäß aus. Wie bei ruhigen Dramen üblich, spielt sich nahezu alles im Frontbereich ab. Die hinteren Boxen werden nur selten vom Score miteinbezogen. Die gute deutsche Synchronisation ist einen Tick lauter ausgefallen als das japanische Original, wobei bei beiden Tonspuren durchweg eine sehr gute Dialogverständlichkeit gegeben ist. Beim Mix unterscheiden sich die Spuren jedoch kaum voneinander.
Als Extras sind sowohl der Originaltrailer als auch ein 70-minütiges Making-of enthalten. Letzteres ist überaus sehenswert ausgefallen und liefert mit Behind the Scenes, B-Roll und Interviewmaterial einiges an Hintergrundinformationen zur gesamten Produktion.
Fazit
Irgendwo zwischen Miike und Lynch angesiedelt, bietet "Strange Circus" ein besonderes und sehr spezielles 'Filmvergnügen'. Krank, bizarr und nah am menschlichen Abgrund inszeniert Regisseur Sion Sono ein Kammerspiel der seelischen Niederungen. Dieser Film wird viele abschrecken, sollte aber seine Betrachter finden. Wer sich an experimentelles, grafisches Kino herantraut, wird sicherlich Gefallen an diesem Werk finden.
- Redakteur:
- Martin Przegendza
Narben entstellen den Menschen nicht nur, sie geben ihm auch eine Identität, machen ihn zu etwas Einzigartigem. Narben zieren Körper und Seele. Egal wie sehr sich der Mensch verändert, Narben bleiben, erinnern ihn immer an die eigene Biographie. Menschen fügen sich selbst Narben zu, verstümmeln ihre eigenen Körper. Manche versuchen damit, sich ihrer selbst zu vergewissern, andere wollen auf diese Weise sich und ihre Umwelt vergessen. Narbengewebe droht jederzeit aufzuplatzen; Narben können niemals ganz heilen.
Die zwölfjährige Mitsuko trägt viele Narben. Eingesperrt in einem Cellokasten muss sie ihren Eltern beim Geschlechtsverkehr zusehen. Ihr Vater zwingt sie dazu. Später werden die Rollen getauscht. Sayuri, die Mutter, schaut zu, während die Tochter mit dem eigenen Vater schläft. Mitsuko fängt an, sich mit der eigenen Mutter zu vergleichen, wird zu ihr, sobald der Vater sie berührt. Sayuri betrachtet ihre Tochter zunehmend als Konkurrentin, prügelt und misshandelt sie. Bei einer Rangelei stürzt die Mutter die Treppe hinunter, stirbt in den Armen der Tochter. Nach der Bestattung löscht Mitsuko ihre bisherige Identität aus, verwandelt sich endgültig in die verstorbene Sayuri.
Taeko, eine an den Rollstuhl gefesselte Schriftstellerin, ist ebenfalls gezeichnet. In ihrem neuen Roman über den Leidensweg der kleinen Mitsuko finden sich viele Anspielungen auf die eigene Kindheit – wenngleich sie dies gegenüber ihrem androgynen Mitarbeiter Yuji abstreitet. Überhaupt ist bei der exzentrischen Künstlerin nichts so, wie es zunächst den Anschein hat. Hysterische Ausbrüche machen sie unberechenbar; Gerüchte kursieren, dass ihre Behinderung nur gespielt sei. Je tiefer Yuji in das Leben von Taeko respektive Mitsuko eindringt, desto mehr verschwimmen die Konturen seiner eigenen Existenz. Ihre Geschichten fließen zusammen; der Grat zwischen Fiktion und Realität wird immer schmaler. Nach und nach brechen ihre Wirklichkeitskonstruktionen auseinander. Alles schwindet. Was Bestand hat, sind die Narben.
Mit eindringlichen, häufig surrealen Bildern liefert Regisseur Sion Sono ein gleichermaßen grelles und atmosphärisches Drama über die Abgründe der menschlichen Seele. Indem er die Handlungsebenen überlagert, häufig zwischen den Erzählsträngen oszilliert, erzeugt er eine permanente Unsicherheit beim Betrachter, der sich zu keinem Zeitpunkt sicher sein kann, was wahr und was erfunden ist. Dass Sion Sono bevorzugt mit Kontrasten arbeitet, die psychischen und physischen Verstümmelungen durch bizarre Jahrmarkteinstellungen und schräge Akkordeonmusik konterkariert, steigert gar die beklemmende Stimmung im Film. Psychoanalytische Theoreme werden versatzstückartig in die Handlung eingeflochten, wollen Erklärungsansätze geben, wo es nichts zu erklären gibt. Die Narben der Protagonisten sprechen für sich.
”Strange Circus“ will vor allem eins: Spuren hinterlassen. Obwohl der Film Kindesmissbrauch thematisiert und mit Grausamkeiten nicht geizt, finden sich keinerlei moralische Belehrungen. Stattdessen zeichnet er ein vielschichtiges Portrait über das Streben nach Individualität und das Sehnen nach Ich-Auflösung. In seinem drückenden Bombast und seiner triefenden Symbolik darf ”Strange Circus“ mit Fug und Recht als eigensinnig bezeichnet werden und wird hierzulande sicherlich nicht allzu viele Freunde finden. Dennoch ist der Film in seiner Radikalität so zwingend, dass sogar inhaltliche Schwächen nicht weiter ins Gewicht fallen. Zu empfehlen – nicht nur für Liebhaber des asiatischen Extremkinos!
- Redakteur:
- Marco Pütz