LEPROUS: Im Gespräch mit Simen Børven
30.08.2024 | 09:59"Mir sind die Rolls-Royce-Bitches, Drogen und der ganze Mist egal."
LEPROUS ist eine der wenigen Bands, die sich auf das wortwörtlich Progressive konzentrieren. Die Norweger folgen nur ihrem Bauchgefühl und servieren uns mit "Melodies Of Atonement" ein spannendes, aber auch nicht einfach zu erfassendes Album. Wir sprachen mit Bassist Simen Børven, der neben vielen spannenden Details zum Songwriting auch viel Persönliches preisgibt.
LEPROUS ist keine Easy-Listening-Musik. Man muss schon Lust haben, sich mit eurem neuen Album auseinanderzusetzen. Besprecht ihr vor einem neuen Album, wohin die Reise gehen soll?
Das ist eigentlich nichts, worüber wir sprechen. Die Dynamik der Musik ergibt sich, während wir im Prozess voranschreiten. Weißt du, was ich meine? Natürlich gibt es Dinge wie die Orchesterelemente, die wir bei "Pitfalls" und "Aphelion" oft eingesetzt hatten. Bei den Songs für dieses Album wussten wir, dass wir das so nicht fortführen wollten. Das eröffnet natürlich eine Reihe von Möglichkeiten. Welche Möglichkeiten das aber konkret sind, weiß man erst, wenn man die Musik schreibt.
Ihr habt sozusagen erst einmal die "Lücken" definiert und dann geschaut, wie ihr sie füllen wollt?
Ja, so in etwa. Einar (Solberg, Sänger und Texter der Band - NM) bereitet ca. 70-80% der Songs skizzenhaft vor. Diese sind noch sehr grob. Nehmen wir die Analogie eines Gebäudes, dann liefern uns seine Skizzen das Fundament, die Grundfläche und vielleicht das Erdgeschoss. Die Stockwerke sind aber noch nicht gebaut. Baard (Kolstad, Drummer - NM) beteiligt sich zu Beginn nur selten an den Songs. Am Beispiel 'Atonement', der ersten Single, die wir veröffentlicht haben: Den Groove habe ich mir ausgedacht und den anderen zugeschickt. Aus einer Synthesizer-Idee wurde ein Gitarrenriff und aus dem Groove letztendlich eine Geschichte auf der Baritongitarre, die ich hier gab. Es ist ein konstantes Hin und Her.
Atonement
https://www.youtube.com/watch?v=k-po0_DnsJk
Ist das bei allen Songs so? Ich war mir beispielsweise sicher, dass der Vibe bei 'Faceless', auf dem wir einen Kontrabass hören, nur vom Bassisten oder Drummer kommen kann.
Ja, genau so ist es. Manchmal sind die Wege auch etwas komisch, wenn ich mit einer Idee oder einem Riff ankomme, das Robin dann als Gitarrist interpretieren und sich zu Eigen machen muss. Die Ideen und Wendungen sind alle miteinander verwoben und bauen aufeinander auf, ehe wir mit den Songs ins Studio gehen. Das hilft uns dabei, die Musik frisch und organisch zu halten. Insofern habe ich bei LEPROUS das Gefühl, dass wir zurzeit eine gute Formel haben, wie wir gegenseitig Ideen einbringen und sie im Studio interpretieren können.
Dabei denken vermutlich die meisten Hörer, dass jeder nur das beiträgt, was er auf seinem Instrument spielt. Ich habe gelesen, dass du dich selbst auch ungerne als Bassist bezeichnest, sondern lieber als Musiker.
Mein Ansatz ist, dass jeder Musiker mit den anderen Ideen austauscht und wir nicht einfach einen Bassisten, einen Gitarristen und einen Sänger haben. Natürlich muss ich herausfinden, wie ich diese Ideen auf meinem Instrument umsetze, mich dem anpasse. Aber die Ideen können eben von jedem kommen. Für mich ist ein Musiker jemand, der auf eine Art Bibliothek musikalischer Fähigkeiten, Kenntnisse, Referenzen etc. aufbauen kann. Er ist aber nicht an einen bestimmten Kanon gebunden, so dass er nur Ideen haben darf, die als Prog Metal durchgehen. Ich habe nichts dagegen, eine Mandoline in die Hand zu nehmen, um Musik zu machen. Es muss nicht immer der mit Elektronik vollgepackte aktive Fünfsaiter-Bass sein. Ich empfinde diesen Ansatz als sehr produktiv. Dieser Begriff eines Musikers ist für mich viel befreiender.
Das Ergebnis eurer Arbeit klingt sehr dynamisch. Normalerweise sind Rock- oder Metal-Alben, ganz gleich ob du sie auf einem iPhone oder einer HiFi-Anlage abspielst, einfach nur "an" oder "aus". Bei "Melodies Of Atonement" gibt es enorme Lautstärkenunterschiede. Wie viel Mühe habt ihr euch mit diesen Dingen geben müssen oder wollen?
Ich würde sagen, die letzten Alben waren alle sehr dynamisch. "The Congregation" war diesbezüglich noch recht binär. Jetzt sind die Kurven der Dynamik noch steiler. Es geht manchmal von einer Klangwand zu drei einzelnen Noten, nachdem wir das Motiv drei oder vier Minuten lang aufgebaut haben. Diesen Ansatz haben wir auf "Melodies Of Atonement" natürlich weiter erforscht.
Das ist live auch anstrengender zu spielen, weil du dich viel mehr konzentrieren musst.
Richtig, ja. Besonders als Bassist und Schlagzeuger ist das fast eine Handwerkskunst, dynamisch zu spielen. Das lernt man nicht wirklich, wenn man Metal spielt.
Ich weiß, was du meinst. Ich komme selbst aus der klassischen Musik. Das ist eine völlig andere Welt in dieser Hinsicht.
Um bei den klassischen Begriffen zu bleiben: Im Barock gab es Stufendynamik. Mit der Romantik, also mit Debussy oder Grieg, wandelte sich die Dynamik. LEPROUS hat in dieser Hinsicht mehr mit Debussy gemeinsam als mit kontemporärer Rockmusik.
Das Stück mit den größten dynamischen Kontrasten ist 'Like A Sunken Ship'. Dafür habt ihr auch ein Video gemacht. Beim Thema Video müssten wir natürlich über 'Silently Walking Alone' sprechen. Wo habt ihr das gedreht, wie kam dieses Video zustande?
Like A Sunken Ship
https://www.youtube.com/watch?v=fAFPje41KtY
Also, wir haben insgesamt drei Videos veröffentlicht. Eines für jede Single. Wir haben mit einem polnischen Produktionsteam namens Grupa13 zusammengearbeitet. Sehr professionelle, sehr angenehme Leute. Es gab viele Überlegungen bezüglich der Drehorte, denn die sollten schließlich eine Art visuelle Erzählung der Musik sein. Es gibt da dieses Schloss außerhalb von Nowa Rola in Polen. Wir haben uns auf der riesigen Terrasse eingerichtet und durch den starken Regen wurde der Dreh beinahe abgesagt. Wir haben aber darauf bestanden, es zu machen. Wir wollten diese epische Kulisse unbedingt haben. Das Ironische ist, dass das Video zu 'Like A Sunken Ship' (mit dem kleinsten Budget) die Klickzahlen der anderen Videos nach wenigen Tagen übertroffen hat.
Da du den visuellen Aspekt eurer Musik ansprichst: Was kannst du mir über das Artwork erzählen? Diesbezüglich habe ich noch nichts erfahren können. Es sieht aus wie ein Lebewesen aus der Tiefsee.
Ja, das ist eine Alge. Ich erinnere mich gut daran, dass wir Konzepte diskutiert haben und ich vorschlug, etwas Mikroskopisches zu machen. Wir haben also verschiedene Überlegungen angestellt. So ganz genau weiß ich nicht, wer letztlich diese Idee hatte. Andere Sachen wie Aufnahmen von roten Blutkörperchen gab es schon bei anderen Künstlern. Wir wollten dann etwas zeigen, was man mit bloßem Auge nicht sehen kann. Und das finde ich wirklich faszinierend an dieser Ebene. Wir haben kaum eine Vorstellung davon, wie klein Dinge werden können und auch nicht, wie groß Dinge werden können. Klar, es gibt eine Schätzung. Aber wir als Spezies können uns dessen nicht völlig sicher sein. Das ist faszinierend, quasi ein Mysterium der Existenz. Wir Menschen können natürlich behaupten, aufgeschlossen zu sein. Wir können alles LSD der Welt nehmen und meinen, dann frei zu sein. Aber wir sind immer noch eingeschränkt auf unsere Ebene der Existenz. Für unser Leben müssen wir die Unermesslichkeit des Weltraums und der Himmelskörper genauso ignorieren wie diese Dinge auf mikroskopischer Ebene. Das ist eines der coolen Dinge, die mir persönlich in den Sinn kommen, wenn ich mir das Artwork ansehe.
Ich habe zum Schluss noch eine sehr persönliche Frage an dich: Kann LEPROUS noch größer werden? Wo möchtest du als Musiker in zehn, fünfzehn Jahren sein?
Darüber denke ich in letzter Zeit tatsächlich viel nach. Und es stimmt, das ist eine ziemlich persönliche Frage. Natürlich hat das Bandleben Auswirkungen auf dein Privatleben. Ich bin der einzige Vater in der Band und möchte gerne weitere Kinder haben. Aber wenn wir die Hälfte des Jahres unterwegs sind, wird sich das auf mein gesamtes Leben auswirken. Meine Hoffnung für das Wachstum der Band wäre also, dass wir unsere Lautstärke an der Live-Front etwas herunterdrehen können. Natürlich wäre es hilfreich, so eine Art Familienabteil im Tourbus zu haben, damit ich meine Familie für ein paar Tage mitnehmen kann. Weißt du, mir sind die Rolls-Royce-Bitches, Drogen und der ganze Mist egal. Das bedeutet mir nichts. Ich möchte Teil dieser Schöpfung authentischer Dinge sein. Das Bling-Bling-Leben überlasse ich den Leuten, die Hip Hop machen oder was auch immer. Ich bin ein erklärter Feind des hedonistischen Hamsterrads. Ich möchte so viele tolle Sachen mit meinen Freunden und meiner Familie machen, wie ich kann. Zusammengefasst möchte ich in diesem Zeitraum ein bestimmtes wirtschaftliches Ziel erreicht haben, damit ich mehr Zeit in meine Familie und andere Projekte investieren kann, die noch mehr auf Leidenschaft basieren.
Das ist eine gänzlich andere Antwort, als man sie von vielen Musikern zu hören bekommt, die mit jedem Album ihren neuen Höhepunkt erreicht haben wollen, oder demnächst die Stadien füllen wollen.
Im Grunde genommen ist es eine Skala, auf der wir uns bewegen. Ich habe alles als Rockmusiker erlebt, was es gibt. Auf einem bestimmten Level natürlich. Wir spielen dieses Spiel ja auch mit, manchmal klettern wir etwas auf der Skala. Wir haben auf großen Festivals die Hauptbühne gespielt, waren im Apollo in London und haben viele coole Leute getroffen. Klar könnte es cool sein, zu sehen, ob dieses Karussel sich noch schneller drehen könnte. Aber ich saß mehr als nur eine Runde auf dem Karusell. Ich werde kein verbitterter alter Mann sein.
Für die Band wünsche ich mir, dass es sich noch paar Runden geht. Wir brauchen weiterhin spannende, authentische Musik. Vielen Dank, dass du mir auch so persönlich auf diese Frage geantwortet hast. Die Fans wissen sowas zu schätzen! Danke dir, Simon!
Ich danke auch, hab einen schönen Tag!
Photo-Credit: Grzegorz Golebiowski
Silently Walking Alone
https://www.youtube.com/watch?v=wsLXRWIN640
- Redakteur:
- Nils Macher