OPEN FLAIR FESTIVAL 2024 - Eschwege

09.09.2024 | 10:42

07.08.2024, Open Flair Festival

Wiedersehen am Tellerrand.

Ich glaube ihr kennt die Situation aus euren WhatsApp-Gruppen oder beim rhythmischen Scrollen durch euren Facebook- oder Instagram-Verlauf. Spätestens wenn der WACKEN-Stream beginnt, potenziert sich die Anzahl der negativen Stimmen, dass wir alle kurz vor dem künstlerischen Untergang unserer Festivalkultur stehen. Überall spielen Acts auf den großen Bühnen der bekannten Szenefestivals die nicht nur musikalisch eine absolute Katastrophe sind, sondern mit Metal doch gar nix mehr zu tun haben. FINCH ballert seine Schützenplatz-Beats über den Holy-Ground, D'ARTAGNAN bringt eine gehörige Fuhre Fernsehgarten mit zum ROCKHARZ und MARCUS BECKER spielt 'Das Rote Pferd' auf dem DONG OPEN AIR. Einen deutlicheren Hinweis zur Ballermannisierung unserer Musik kann es doch gar nicht geben. Schlimmer noch, immer mehr Bands aus unserem Spektrum adaptieren diese erfolgreiche Herangehensweise und sind bei tiefgehender Analyse auch nur noch Schlager mit E-Gitarren. Aber warum Aufregen Freunde? Niemand wird gezwungen zum WACKEN zu fahren und wenn doch, dann gibt es 2,8 Millionen andere Bands auf dem Festival die man sich angucken könnte. Das gleiche gilt auch für das SUMMER BREEZE. Euch wird das Line-up in Summe zu soft? Fahrt doch zum PARTY.SAN und schraubt euch die Rübe zum feinsten Geballer ab. Ihr wollt doch nur die reine Lehre bewahren? Dann ab zum KIT, TRVEHEIM oder HEADBANGERS OPEN AIR mit euch. Aber hört bitte auf, euch die Laune und vor allem anderen die Stimmung zu versauen, weil ihr der Meinung seit dass SANTIANO hier nicht hingehört oder ihr frustriert seid, weil der junge Kurzhaarige mit Bierkönig-Shirt nach zwei SCORPIONS Songs gelangweilt davon tapst, weil er doch nur einmal 'Wind  Of Changes' hören wollte und mit 'In Trance' oder 'Lovedrive' nichts anfangen kann. Wenn ich ehrlich bin, frustriert mich dieses Gate-Keeping über allen Maßen und eigentlich möchte ich meine Festival-Kultur noch deutliche diverser haben, als es der aktuelle Markt hergibt. In meiner Playlist läuft OASIS nach MARDUK, MICKIE KRAUSE vor MANILLA ROAD und ROGER WHITAKER und OPETH geben sich die Klinke in die Hand. Auch wenn die absolute, musikalische Barrierefreiheit noch ein kleiner Traum bleiben mag, gibt es doch ein paar handfeste Alternativen für alle Musikliebhaber, die gerne besonders weit rausschwimmen. Eine Alternative nennt sich OPEN FLAIR. Glaubt ihr nicht? Ein Festival wo sich HEAVEN SHALL BURN und SDP die Mainstage geteilt haben, wo CLUESO genauso Headliner-würdig ist wie IN FLAMES? Ein Festival mit glasklaren Visionen und einem Spielwitz im Booking, welches künstlerischem Anspruch, positivem Lebensgefühl und der puren Freude nach Eskalation ein Zuhause bietet. Klingt spannend und wenn ihr Bock habt, dann nehme ich euch mit zum OPEN FLAIR 2024.

Seit nunmehr 40 Jahren bietet das zu 100% ehrenamtlich umgesetzte Festival im beschaulichen Eschwege der musikalischen und künstlerischen Vielfalt ein Zuhause. Und auch beim diesjährigen Jubiläum wird hiervon in keiner Weise abgewichen, somit ist es erneut beeindruckend, wie mit über 2.500 ehrenamtlichen Helfern ein Festival mit über 20.000 Besuchern so erstklassig organsiert und strukturiert umgesetzt werden kann. Neben drei Hauptbühnen gibt es noch zahlreiche andere Locations auf denen parallel so viel passiert, dass man in Summe eine Auswahl an Entertainment hat, welche ich so nur vom WACKEN kenne. So kann man auf der Hofbühne oder dem E-Werk nicht nur kleinere Bands bewundern, sondern im Kleinkunstzelt Comedy-Acts oder Poetry-Künstler abfeiern oder sich im Elektrogarten komplett der DJ-Kultur hingeben. Es gibt noch eine Parallele zum WACKEN: Auch hier ist der Ort selbst der heimliche Headliner. Das Festival bindet durch seinen Standort die ganze Innenstadt mit ein und die Anwohner übernehmen aus den heimischen Vier Wänden auch mal gerne den Verkauf von alkoholischen Getränken. Das sorgt für unfassbaren, familiären Charme und sorgt für mehr Betrieb in den einzelnen Gassen und Straßen, als vor den Bühnen. Besonders dieses einmalige Ambiente sorgt dafür, dass man in Summe tatsächlich auch weniger Zeit bei einzelnen Auftritten verbringt oder aber Phasen des Leerlaufs zwischen interessanten musikalischen Auftritten kaum spürbar werden. Das ist etwas, wofür ich dieses Jahr zu wenig Zeit habe und sehr gerne im nächsten Jahr intensiver aufsaugen möchte, denn ich glaube hier spürt man die echte DNA vom OPEN FLAIR am besten.

Dieses Jahr kann ich aufgrund privater und beruflicher Verpflichtungen leider erst am Freitag anreisen und auch der Samstag fällt bis auf zwei Konzerte komplett flach. Nun gut - machen wir das Beste draus. Meine erste musikalische Wahl am Freitag fällt auf die kleine Hofbühne, um mich mit GRUNDHASS ein wenig einzugrooven.  Auch wenn der Name es suggerieren mag, gibt es hier keinen misanthropischen Black Metal auf die Ohren, sondern eine sehr poppige Punkrock-Variante mit deutschen Texten. Das Debütalbum "Wenig los" durfte ich 2021 schon auf POWERMETAL.de rezensieren und somit bin ich auf meine persönliche Livepremiere gespannt. Der Aufritt ist grundsolide. Mittlerweile setzt Steffen Neumeister weniger auf die reduzierte Akustikschiene, sondern hat sein Set mit zusätzlicher Percussion und E-Gitarre merklich aufgewertet, wobei eher hochgefahren. Leider geht hier meiner Meinung nach ein besonderer Charme verloren, den er auch bei aller Spielfreude nicht wieder einfangen kann. Als würde er meine Enttäuschung spüren, schenkt er mir mit 'Dein ist mein ganzes Herz' eine Coverversion von HEINZ RUDOLF KUNZE und ich bin wieder versöhnt. Ich bin zwar der Meinung, dass man auch mal andere Songs von HRK covern könnte, aber für hier und jetzt bin ich happy mit dieser gelungenen Überraschung.

Doch jetzt heißt es, zügig ein Bierchen aus dem Wohnzimmerfenster besorgt und dann Ortswechsel. Das nächste Ziel ist das Kleinkunstzelt und ich bin erstmals glücklich über einen Presseausweis zu verfügen. Ohne diesen wäre ich niemals zum Auftritt von RAINALD GREBE & DIE KAPELLE DER VERSÖHNUNG gekommen. ZUm Glück wurde extra draußen ein Fernsehgerät installiert, so dass man im Park ein gewisses Public-Viewing-Flair bei den einzelnen Auftritten erleben kann. Vor dem Zelt ist bereits eine riesige Schlange und es gilt die Regel, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Wenn nämlich die Kapazität des Zeltes erschöpft ist, dann kann es passieren, dass man vor verschlossenen Türen steht. Ich kriege jedoch noch einen Sitzplatz und bekomme im Anschluss eine komplette Stunde feinsten Anarcho-Wahnsinn geboten. Irgendwo zwischen Jazz-Club, Impo-Comedy und puren Dadaismus liefert die Band den kompletten Wahnsinn in Tüten. Schwer verdaulich für das Publikum, welches ein Best-Of Set oder zumindest eine Handvoll Klassiker erwartet hat. Somit sieht man während des Auftrittes immer mal wieder einzelne Personen kopfschüttelnd das Zelt verlassen. Ja, Herr Grebe ist schon sehr speziell und dieses Mal definitiv noch mehr als gewohnt. Trotzdem, oder gerade deswegen, beide Daumen nach oben.

Pünktlich zum Regen verlasse ich das Zelt und mache mich nun auf zur Seebühne. Dort wird es dann tatsächlich auch mal metallisch mit ANNISOKAY. Während mir der Metalcore auf Platte immer schon etwas zu beliebig und austauschbar war (sorry Pia), ist das live schon eine andere Hausnummer. Besonders die Songs von "Aurora" funktionieren auf der Bühne ziemlich gut. Ebenso ist die Stimmung fast schon auf dem Niveau einer intimen Clubshow und zeigt, dass auch solche modernen Metalsounds mit vielen heftigen Parts ihren Platz auf dem Flair finden. Leider kann ich dieses Mal nicht die komplette Show genießen, da die Neugier mich dann doch wieder zur Hauptbühne treibt. FEINE SAHNE FISCHFILET fehlt mir tatsächlich noch in meiner Livekonzerte-Sammlung und auch wenn ich die Truppe jetzt persönlich gar nicht so interessant finde (deswegen reicht auch ein halber Auftritt), wird in unserer Szene so heiß über die Band diskutiert, dass es für mich essenziell ist, sich mal selber einen Eindruck zu verschaffen. Wir können zwei Aspekte direkt nach den ersten drei Songs, welche ich bewusst mitkriege, festhalten. So politisch extrem und (in)diskutabel agiert die Truppe bei diesem Auftritt definitiv nicht und präsentiert eher eine Punk-, Indie-, Ska-Rock-Mischung, welche mit ihren deutschen Texten perfekt auf dieses Festival passt und das Publikum dementsprechend auch zu begeistern vermag. So handzahm hatte ich die tatsächlich nicht abgespeichert. Das alles personifiziert sich auf der Bühne in Sänger Monchi und wirkt so über die komplette Gig-Dauer einfach nur "knuffig". Besonders der glattpolierte BROILERS-artige Bläsersound ist zwar arg poppig, gefällt mir aber in diesem Ambiente ganz gut. Ich hatte mich zwar schon insgeheim auf einen kleinen Verriss gefreut, aber ich muss mir eingestehen, dass die Jungs einen vernünftigen Auftritt hingelegt haben und spätestens mit 'Komplett im Arsch' alle Zweifel Lügen strafen, warum diese Combo mittlerweile so hoch im Billing angesiedelt ist.

Als nächstes ist die Headliner-Zeit in Eschwege angebrochen und ich darf das erste Mal einem Auftritt von DEICHKIND beiwohnen. Klar, hätte ich zeitgleich auch der Show von J.B.O. zusehen können, aber zum einen habe ich diese Truppe schon 473 Mal gesehen und zum anderen ist die Hamburger Hip-Hop- und Electropunk-Formation einer der Hauptgründe für meinen diesjährigen Besuch. Spätestens seit dem 2006er Album "Aufstand im Schlaraffenland" und der unsterblichen Hit-Single 'Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)' ist diese Band auch omnipräsent auf den Camping-Plätzen sämtlicher Metal-Festivals und genießt auch unter Headbangern Kultstatus. Das kann man zwar untrve finden, bleibt aber ein nicht zu verneinender Fakt. Für mich stehen insbesondere "Befehl von ganz unten" und "Niveau weshalb warum" ganz hoch im Kurs und auch die letztjährige Veröffentlichung "Neues vom Dauerzustand" (Platz 25 in meinen Jahrescharts) konnte mich wieder ziemlich begeistern, obwohl mir der leicht anarchische Charme nach dem Weggang von FERRIS MC etwas fehlt. Mit fünf neuen Songs bildet dieses Album auch das Rückenmark des heutigen Auftrittes. Das restlichen Set ist eine bunte Mischung aus nunmehr auch schon knapp 25 Jahren und dass am Ende 25 Songs gespielt wurden, dürfte also kein unbewusster Zufall sein. Puristen werden sich immer noch daran stören, dass bei so einer Art von Live-Musik natürlich fast alles Halbplayback ist, aber in Summe ist das halt schon 'Leider geil'. Die Beats ballern förmlich über das Gelände und der Fokus liegt auf einer würdigen visuellen Umsetzung der einzelnen Songs. Das ist schon großes Kino und steigert sich bei der Zugabe dann in einen kompletten, visuellen Überwältigungsrausch. Nahezu ständig passiert etwas oder es werden bizarre Gimmicks auf der Bühne präsentiert. Deswegen bekommt auch jeder, der hier musikalisch nicht abgeholt wird, wenigstens etwas zu gucken und das finde ich als Mainact schon angebracht. Somit kann ich es sogar verschmerzen, dass DEICHKIND heute mit 'Illegale Fans' und 'Denken Sie groß' auf zwei meiner absoluten Favoriten verzichtet. Doch bei aller Freude über den Auftritt, darf hingegen ein absolutes No-Go nicht verschwiegen werden, und zwar, dass die Band zwar halbwegs pünktlich anfängt, dann aber mit ihrer Show massiv überzieht. Das kenne ich von anderen Festivals nicht. Wenn der Auftritt direkt so geplant wurde und das kann bei einer solchen durchgetakteten Produktion nicht anders sein, dann gehört die offizielle Running Order angepasst oder zumindest aktualisiert. Somit kann ich den Unmut von manchen MASSENDEFEKT-Fans durchaus verstehen.

Irgendwie hat dieser Ablauf auch MASSENDEFEKT selbst auf die Stimmung geschlagen. Die nachfolgende Stunde Punkrock ist, gelinde gesagt, in meinen Ohren eine Zumutung, selbst für echte Fans. Der Sound ist, unabhängig dass man grade von DEICHKIND kommt, eine mittelschwere Katastrophe und klingt nicht nur erschreckend undifferenziert, sondern (und das darf bei einem Festival-Auftritt nach 24 Uhr nie passieren) viel zu leise. Hinzu kommt eine Performance, die ich mir bei einer so etablierten Band kaum erklären kann und die beileibe auch keine Aussage über die generellen Live-Qualitäten von MASSENDEFEKT ermöglicht. Somit entscheide ich mich dafür, die Jungs mit anderen Erinnerungen zu verknüpfen und trete nach der Hälfte des Auftritts den Heimweg an.

Da am Samstag einige private Verpflichtungen rufen, schaffe ich es erst auf die letzte Minute zum ALLIGATOAH-Auftritt vor die Hauptbühne. Das ist schade, da mir mit RANDALE, BEATSTEAKS und DRITTE WAHL durchaus ein paar starke Auftritte durch den Lappen gegangen sind. Dafür entschädigt der deutsche Rapper, welcher mittlerweile seine Passion zum NU-Metal der Jahrtausendwende soweit getrieben hat, dass sein komplettes musikalisches Schaffen danach ausgerichtet wird, mit einem formidablen Auftritt.

 

Nach 'Bück dich hoch' vom Vortag geht es abermals in die deutschen Großraumbüros und Lukas Stobel gibt den Stromberg im Metal-Kostüm. Während ich der Meinung bin, dass ihm auf Tonträger der Sprung ins härtere Business noch nicht so gelungen ist und ihm der für ihn so wichtige Flow flöten geht, sind die Adaptionen der älteren Songs in diesem Stil live eine wunderbare Angelegenheit.

Aber auch aktuellere Tracks, wie 'Weisse Zähne' und das thrashige 'Wer lacht jetzt' sind auf der Bühne nochmal deutlich konsequenter, als auf Platte. Durch die anhaltend hohe Schauspielkomponente wirkt das ganze Konzert zwar eher wie eine durchgetaktete Theateraufführung, aber da ALLIGATOAH seine Konzerte eh so versteht, trifft auch diese Show den Nagel auf den Kopf. Als Fazit können wir auch nach seinem Besuch in Eschwege festhalten, dass er weiterhin einer der für mich besten deutschsprachigen Künstler bleibt und die Fragestellung, ob ich mir Karten für die Tour 2025 besorgen werde, obsolet ist. Alleine die akustische Aufbereitung von 'Musik ist keine Lösung' auf einem Festival ist so großartig, dass ich sie als komplettes OPEN FLAIR-Highlight abspeichere.


Da der Kopf jetzt eine Menge Spaß hatte und nun eine Pause braucht, freue ich mich als nächstes das Tanzbein schwingen zu dürfen und mich nun ganz dem Irish-Folk von VERSENGOLD hinzugeben. Eigentlich sind diese Klänge in einem After-Headliner-Slot eine sichere Bank, aber dennoch hat mich diese Positionierung von VERSENGOLD auf einem Familien-Festival sehr gewundert. Wer, wie ich, auf der Tour miterleben konnte, wieviel Spaß insbesondere Kinder mit dieser Truppe haben, hätte ihr lieber einen Nachmittagsslot gegeben. Nun denn – Leben ist kein Wunschkonzert und Partyalarm gibt es ja trotzdem. Ich kann nicht viel zu diesem Konzert im Vergleich zum meinem Konzertbericht von Anfang des Jahres ergänzen, außer, dass man Malte Hoyer und seiner Gang die späte Uhrzeit doch etwas anmerkt. Die Band war schonmal vitaler und energischer unterwegs, aber es bleibt alles noch im wirklich positiven Bereich und steigert sich auch Song für Song. Auch funktioniert die neue, erste nicht deutschsprachige Nummer, 'The Devil Is A Barmaid', auf der Bühne klasse und integriert sich erstaunlich homogen ins restliche Set. Ich wünsche mir trotzdem, dass diese Nummer eine Ausnahme oder ein Experiment bleibt und keinen Indikator auf eine mögliche internationalere Ausrichtung darstellt. Kurz nach 2:00 Uhr ist auch dieser Auftritt Geschichte und ich mache mich sehr zufrieden auf zum Auto. Morgen ist tatsächlich schon wieder der letzte Tag, aber aktuell obsiegt die Vorfreude auf eine Handvoll starker Gigs noch über dem aufkeimenden Festival-Blues.

Nachdem ich den halben Sonntag damit verbringe, das OPEN FLAIR und seine besondere Atmosphäre in den Gassen bei ein paar Kaltgetränken wirken zu lassen (und dabei einfach MILLENCOLIN verschwitze), bewege ich mich langsam in Richtung Hauptbühne, da diese am heutigen Tage das komplette Programm abbildet, das ich mich noch rausgesucht habe. Doch vor dem Vergnügen kommt die Arbeit und die heißt in diesem Fall SWISS UND DIE ANDERN. Sorry, aber diese Truppe konnte ich mir in der Kürze der Zeit dann doch nicht interessant trinken. Ich weiß, dass die Hamburger mit ihrer leicht verdaulichen Mischung aus Crossover und Punkrock auf offene Ohren in unser Szene stoßen und ich auch definitiv nicht das Zielpublikum bin, aber dass ich so wenig Verständnis für etwas aufbringe, verwundert mich schon selbst. Ich meine, wir machen auch immer unseren Wocheneinkauf beim Penny und trotzdem begreife ich die Texte trotz ihrer lyrischen Simplizität nicht. Hinzu kommt eine musikalische Begleitung auf Kreisliga-Niveau und eine Art von Sing- und Rap-Gesang, der echte Künstler, aufgrund des kommerziellen Erfolges der Band, zur Weissglut bringen müsste. Wenn ich das Konzept richtig deute, dann muss das aber genauso asozial, basisch und gewollt unperfekt klingen. Als würden die Kumpels auf einer WG-Party, oder besser im Vereinsheim, plötzlich zu den Instrumenten greifen und wild drauflos musizieren. Das ist in dieser Form und an einem solchen Abend und im privaten Rahmen mit freundschaftlicher Connection kultig, aber diese Band bringt dieses Konzept auf die Mainstage auf einem mittelgroßen Festival. Genau wie im Vereinsheim machen dann auch die Coversongs am meisten Stimmung und sind aber leider auch so uninspiriert ausgesucht, dass ich am liebsten mit einen Einkaufwagen direkt in die Penny-Deko brettern würde. 'Schrei nach Liebe'? Wirklich jetzt? Haben uns Schulbands nicht über Jahre hinweg, schon genug mit den stümperhaftesten Versionen dieses Klassikers gefoltert? Wobei Schulband vom Niveau auch ziemlich gut zum heutigen Auftritt passen würde. Die anderen Coverversionen? Die sind dann von LIMP BIZKIT und passen zumindest, was das überzogene und komplett unreflektierte Ego der Truppe betrifft, wie die Faust aufs Auge.  Viele Leute haben aber auch heute verdammt viel Spaß mit der Band und das ist, was am Ende zählt. Nur für mich bleibt dieses Mysterium und der Hype um SWISS UND DIE ANDERN weiterhin schleierhaft.

Den Hype der folgenden Band, welche auf der Freibühne im Anschluss spielt braucht mir hingegen keiner mehr zu erklären. Nach dem Interview mit Jules und einem Besuch der ersten Headlinertour durch Deutschland ist SETYOURSAILS in der Tat einer der heißesten Acts im modernen Metal. Wie keine zweite Gruppe mixt die Truppe Rock- und Punk-Spirit in ihren Metalcore-Sound und schafft damit einen unfassbar individuellen Klang in einem komplett überschwemmten Mark. Und auch heute sind die Songs der letzten beiden Alben absolute Partygaranten. Schnell finde ich mich im Circle-Pit wieder und sorge dafür, dass mein Schrittziel in einen für Sonntag akzeptablen Bereich kommt. Zwar ist der Sound wieder etwas leiser und gedämpfter auf dieser Nebenbühne, aber noch Welten vom MASSENDEFEKT-Sound entfernt, so dass ich nicht von einem generellen Problem sprechen möchte. Richtiger guter Auftritt.

Den folgenden SONDASCHULE-Gig müsste ich eigentlich in der dritten Person von mir schreiben, zu sehr sind die Erinnerungen vernebelt, da ich mich die komplette Stunde im wilden Pogotanz direkt vor der Bühne wiedergefunden habe. Es ist halt, wie es ist. Alkohol und Irish-Folk, Humppa oder Ska sind teuflische Mischungen und diese volle stunde Ska-Gebläse sorgt bei mir für eine ordentliche Feiersause. Zwar geht mir mittlerweile der Fokus der Mainstage auf deutschen Gesang etwas auf die Kette, aber die Texte aus Oberhausen sind einfach sehr fluffig gehalten und haben häufig auch eine humorvolle Storytelling-Komponente. Genau richtig, wenn man eh nur noch mit einem drittel Ohr darauf fokussiert ist. Das Konzert ist vorbei und mein T-Shirt ist durchgeschwitzt. So muss das doch sein. Höre ich mir das jetzt häufiger im Streaming an oder besorge mir eine CD? Definitiv nicht, dazu fehlt es mir auf mehreren Ebenen doch zu sehr. Würde ich mir den nächsten Auftritt auf einem Festival wieder ansehen? Definitiv – denn das war ne richtig geile Sause.

Da wir uns jetzt alle so wunderbar am Tellerrand aufgehalten haben, wagen wir jetzt einmal einen Schritt darüber hinaus und gucken mal, was NINA CHUBA so abliefert. Erstmal Respekt für die Co-Headlinerposition am Sonntag nach nur einem Album, welches auch nur knapp ein Jahr auf den Buckel hat. Steile Karriere? Check! Dass 'Wildberry Lillet' (ja, genau die ist das) ein Superhit ist, braucht man nicht zu diskutieren, aber auch der Rest der mir unbekannten Songs ('Ich hass dich', 'Mangos mit Chili') hat einen ziemlich schicken Flow und Groove, der mich mehr als einmal an eine weibliche Version von PETER FOX erinnert. Seine Beats sind zwar noch etwas zwingender und lyrisch trennt die beiden doch noch eine mehrspurige Autobahn, aber was ich heute Abend hier höre, ist alles andere als schlecht. Richtig guter Auftritt und endlich auch mal eine Künstlerin, welche sich auf der Hauptbühne pudelwohl fühlt. Besonders für das jüngere Publikum ist das ein echter Mehrwert für das Festival. Gerne mehr davon.

Das letzte Kapitel obliegt dann einer internationalen Größe und mit RISE AGAINST darf mal wieder meine OPEN FLAIR Konstante an den Start. Konstante? Nach 2011 und 2017 ist RISE AGAINST wieder Headliner auf dem Flair und auch ich darf zum dritten Mal an dieser Stelle die Amerikaner begutachten. Bereits der Opener 'Satellite' macht klar, dass es auch 2024 wieder klasse wird. Wie gut das Set funktioniert, zeigt sich tatsächlich erst retrospektiv, als mir bewusst wird, dass sie keinen einzigen Song vom Überalbum "Wolves" gezockt haben und es trotzdem in Summe passt. Vielleicht sind sie auch diesen Abend wieder nur das letzte Puzzleteil zu einem tollen Gesamtfestivalfeeling, weil sie durch die reduzierten Showelemente (eigentlich gar keine) und dem englischen Gesang schon eine Sonderstellung auf der Mainstage einnehmen. Auch wenn ich im Vergleich der drei Auftritte die anderen beiden aus diversen Gründen noch etwas stärker fand, kann ich mich jetzt schon festlegen, dass ich zum nächsten Auftritt der Jungs gerne wiederkomme. Dürfte dann ja 2030/2031 der Fall sein.

Dies ellenlange Abstinenz gilt natürlich nur für RISE AGAINST. Das OPEN FLAIR würde ich gerne auch 2025 schon wieder besuchen, da es in der Festivallandschaft einen ganz besonderen Charme ausstrahlt, welcher durch die Location, die Anwesenheit unterschiedlichsten Künstler (von Comedians und Punkrockern, über moderne Metalbands bis hin zu Rappern und Popsternchen) und wildesten Mischung aller Fanlager so körperlich spürbar wird, dass dieser kunterbunte Cocktail auch noch Tage nachhallt. Sieht aus wie ein Rainbow, schmeckt wie Bahama Mama und kanllt wie ein Long Island Ice-Tea. Wenn man dann noch an jeder Ecke spürt, wieviel Herzblut die ehrenamtlichen Helfer und Veranstalter in dieses Festival stecken, dabei all der negativen Stimmung da draußen den Vogel zeigen und beweisen, wie die Zusammenarbeit über mehrere Generationen funktionieren kann, dann möchte man nur noch seinen Hut ziehen.

Wenn euch meine Worte etwas erwärmt haben und ihr auch Bock draufhabt, dieses Kleinod in Eschwege 2025 zu besuchen, dann markiert euch den 06-10.08.2025 fett im Kalender und freut euch auf PAPA ROACH, NOTHING BUT THIEVES, ENTER SHIKARI, BETONTOD und weitere schon bekanntgegebende Acts (noch +140 in Vorbereitung). Vielleicht heißt es dann auch für euch einmal im Jahr: Wiedersehen am Tellerrand.

Vielen Dank an folgende Fotografen zur Bereitstellung der Bilder:

Frank Meissner -> Gelände + FEINE SAHNE FISCHFILET
Doris Büschel -> Kleinkunstzelt + VERSENGOLD
Christian Walter -> Deichkind + ALLIGATOAH Bühne + RISE AGAINST
Felix Mangold -> ALLIGATOAH
Ivonne Rode -> SWISS UND DIE ANDERN
Steffen Höhre -> SONDASCHULE
Markus Claus -> Stagediving + Hofbühne


Redakteur:
Stefan Rosenthal

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