Gruppentherapie: OPETH - "The Last Will And Testament"

28.11.2024 | 18:06

Bereit für den Besuch im Gruselhaus?

Wir eröffnen den Reigen unserer Soundcheck-Gruppentherapien für den November mit dem Sieger. Klaro, alle reden darüber, es handelt sich um OPETH. Auf "The Last Will And Testament" gibt es wieder Growls und es scheint so, als würden Mikael Åkerfeldt und seine Mannen wieder Boden bei Metallern gut machen, nachdem man mit den letzten Alben eher die verträumte Prog-Gemeinde zufriedengestellt hat. Nils zumindest gibt sich extrem zufrieden, was er ganz wunderbar im Hauptreview zum Ausdruck bringt. Doch immer gibt es auch Nörgler und einer davon stößt auch unsere Gruppentherapie an. Na, wer ist das?



OPETH gewinnt mit dem neuen Album "The Last Will And Testament" unseren Soundcheck im November. An diesem Satz sieht dank der Klasse der schwedischen Prog-Legende erst einmal nichts wirklich überraschend aus. Doch würde ich argumentieren, dass Bandkopf Mikael Åkerfeldt und seine Mitstreiter den Sieg nur einfahren können, weil der gesamte Soundcheck in diesem Monat eher durchwachsen und mit wenigen echten Highlights gespickt ist. Zu eben jenen Höhepunkten würde ich dabei den 14. OPETH-Langdreher übrigens nicht zählen, denn auch wenn die erste Single "§1" mit ihren recht prominenten Growls und der durchaus wuchtigen Ausrichtung auf eine kleine Rückkehr zu vergangenen Glanzzeiten hoffen lässt, bleibt "The Last Will And Testament" eher eine Fortsetzung des Vorgängers "In Cauda Venenum" mit etwas härterer Grundausrichtung.

Handwerklich überragen die Schweden dabei wieder in gewohnter Manier und bekommen mit fast träumerischer Sicherheit jede noch so unerwartete musikalische Wendung hin. Dazu überzeugt der Langdreher mit einer konzeptuellen Story rund um einen Patriarchen in der Ära nach dem ersten Weltkrieg. Das Problem ist, die Musik holt mich bei aller subjektiver Wertschätzung nicht unähnlich zu den Mangini-Jahren der Kollegen DREAM THEATER emotional überhaupt nicht ab. Das ist übrigens auch schon bei allen anderen Langspielern seit dem Jahr 2011 der Fall.

Ja, ich nicke immer wieder mit, ziehe überrascht ob toller Wendungen die Augenbrauen hoch oder versinke auch mal in einer verträumten Passage, nur hängen bleibt davon nach Verklingen des Silberlings nichts. Und so bleibt "Watershed" auch weiterhin das letzte Album der OPETH-Diskografie, das mir wirklich viel bedeutet, und für "The Last Will And Testament" gibt es anerkennende Worte, aber eben "nur" sieben Zähler.

Note: 7,0/10
[Tobias Dahs]

 

"The Last Will And Testament"? Das wollen wir doch nicht hoffen, denn wir erwarten nach diesem Album von OPETH natürlich noch weitere. Die erste Sensation war ja die Rückkehr der von allen Anhängern der Band so geliebten Growls von Mikael Åkerfeldt. Der sagte ja, diese kämen erst wieder, wenn die Leute nicht mehr danach fragten. Mit '§1' legt die Band aber los wie einst im Mai: Die Düsternis, dazu die Grollstimme und der rätselhafte Unterton der Geschichte, das passt. Der Meister wäre nicht der Meister, würde er sich an Strophe-Refrain-Strophe halten. Es geht verwinkelt zur Sache. Der Track packt einen am Kragen und zieht uns mitten hinein in ein Haus, in dem sich einst eine dunkle Story abspielte.

Ruft hier einer ein Mädchen ins Haus, das draußen schaukelt? Wir schließen die Augen und öffnen sie: Es kann nicht sein, denn die Fenster sind leere Höhlen, die Läden hängen schief, der Garten ist verwildert, die Schaukel verschwunden und die Tür hängt in den Angeln. Das Mädchen im roten Kleid auf der Schaukel ist seit 50 Jahren tot und der, wer da rief, noch viel länger. Unendlich traurige Klänge führen aus dem Song.

'§2' beginnt erneut mit Grollstimme, wie geil! Dass Mikael auf diese so superb passenden Kontraste zu der teilweise sehr zerbrechlich tönenden Musik je verzichtete, finde ich unfassbar. Das ist doch ein echtes Trademark. Und auch dieser Song ist angefüllt mit vielen Ideen. Åkerfeldt schichtet Growls und Klargesänge übereinander oder lässt das eine in das andere übergehen. Das ist neu. Er sagte vor der Veröffentlichung des Albums, dass er Dinge auflese und kombiniere, er liebe und hasse Musik, bringe Komplementäres zusammen und sei mehr einer, der das Abseitige schätze. Da kann man ihm zustimmen.

'§3' ist sofort als OPETH-Komposition erkennbar, nach drei Takten sozusagen. Auch mit Klarstimme tönt es heavy, aber auch hakenschlagend: Nie weiß man, was nun folgt. '§4' spielt anfangs mit Orientalik, mäandert dann jedoch zu einem düsteren Heavytrack. Hach ja, diese geniale Düsterstimme: Auch in kurzen Parts immer das Ding. Sanfte Momente wechseln sich mit stählerner Epik ab. Dann kommt Ian Andersons (JETHRO TULL) Einsatz: Das Flötenbreak ist so derbe gut, jazzy geht es also auch, was mich natürlich sehr freut. Aber es bleibt dunkel. Anderson übernimmt auch einige Narrations. Und auch der Sänger von EUROPE, Joey Tempest, singt einige Zeilen, und das nicht im 'Final Countdown'-Style.

Hall, ein vertrackter Rhythmus und kaleidoskopartige Stimmen eröffnen '§5'. Kastagnetten und Growls? Das geht! Ein grandioser Aufbau, diese Steigerung, Hammer. Und dann kommt diese Passage, eine Variation eines düsteren Themas des "Herrn der Ringe" (ist da auch 'Hall Of The Mountain King' drin?), unfassbar superb, unkitschig, und das lässt er ausklingen, langsam wird es leiser, diese tolle Idee, oh, wie ich nun grolle! Das ist nämlich ein sensationell gutes Finale, das nie aufhören soll, nie, NIE, N I E!

'§6' enthält nach softem Beginn Death-Metal-Vibes, die mich sofort begeistern. Die biestige Stimme ist hier immer wieder präsent. Dann setzt es Keys wie in den Siebzigern, EMERSON LAKE AND PALMER wären begeistert. '§7' führt auf schwarzen Schienen weiter in die Dunkelheit. Stimmen aus dem Jenseits, gebrochen, fächernd, Anderson erzählt (auch eine sonore Stimme), da erhebt sich der Uruk-Hai, der in der Dunkelheit schlummerte. Eigentlich ist das ein Märchen für Erwachsene, quasi eine Europa-Langspielplatte mit Grimm-Märchen, gegossen in musikalische Form und 50 Jahre später. Solche Musik macht kreativ: auch ein Kompliment an OPETH 2024.

'A Story Never Told' schließt das Album versöhnlich ab: Der Song bleibt sanft, transparent und schillernd wie ein aufgefalteter Engelsflügel. Was soll ich sagen: ein absolutes Highlight des Jahres für mich.

Note: 9,5/10
[Matthias Ehlert]

 

Jetzt mal Butter bei die Fische. Was ist euer Comeback des Jahres? Ist es nun tatsächlich LINKIN PARK (zur Gruppentherapie) oder sind es doch die Growls bei OPETH? Ich entscheide mich bei dieser Frage wohl eher für die Rückkehr von SLEEPYTIME GORILLA MUSEUM, obwohl auch ich ein Fan von Mikaels düsterer Grollstimme bin und insbesondere "Ghost Reveries" und "Watershed" zu meinen absoluten Lieblingsalben überhaupt zähle. Aber alles hat nunmal seine Zeit und ich konnte auch mit der Phase von "Heritage" bis "In Cauda Venenum" sehr viel anfangen. Klar, das war deutlich retro-proggiger als man es erwarten durfte, aber bei guter Musik ist das Genre erstmal irrelevant. Und relevant waren diese Alben durch die Bank.

Doch wie es so häufig bei Bands und stilistischen Brüchen ist, gehen viele Fans diesen Schritt nur bedingt mit. Somit wurde der Faktor der Begeisterung in der Metal-Bubble sukzessive über die Jahre kleiner. Aus diesem Grund war ich erstmal maximal skeptisch als ich die Gerüchte hörte, dass "The Last Will And Testament" die Rückkehr zur Härte bedeuten sollte inklusive dem so sehr vermissten brutalen Gesangsstil. Handelt es sich um eine unnötige Reaktion auf die quengelnde Fanbasis und ein Zugeständnis an diesen "Markt" oder bekommen wir wirklich ein Album mit entsprechender Story und Atmosphäre geboten, zu welchem dieser Wandel passt?

Und ja, auch ich darf mich jetzt beruhigt zurücklehnen. Das macht alles absolut Sinn und man bekommt zumindest das Gefühl, dass Herr Åkerfeld sich dieses Qualitätsmerkmal für genau diese Songs aufgehoben hat. Ein guter Wein muss eben reifen und wird erst zu besonderen Momenten aus dem Regal geholt. Die Growls sind fantastisch integriert und harmonisch eingeflochten. Dabei ist es aber keine Rückkehr zur Wasserscheide wie ich anfangs in aller Euphorie noch vermutete, sondern eher die konsequente Weiterentwicklung des direkten Vorgängers. Bildlich gesprochen, klingt es fast so, als würden wir nun die alte Villa auf "In Cauda Venenum" betreten und befinden uns jetzt mit all seinen exzentrischen, mysteriösen Bewohnern in exakt diesem Landsitz.

Einer dieser ungewöhnlichen Bewohner ist übrigens Ian Anderson. Womit wir die Klammer zurück zum Fandom schließen dürften. Meinem Lieblingskünstler so einen prominenten Slot zu bieten, ist schon echt ein fieser Move. Dabei ist das auch hier keine Willkür, sondern ein konsequentes, gewachsenes Vorgehen. OPETH selbst hat auf "Sorceress" mit 'Will O The Wisp' den besten JETHRO TULL-Song der letzten Dekaden rausgehauen. Auch hier wurden seine Momente, ob nun als Erzähler oder als Gott mit der Querflöte, kongenial um- und eingesetzt.

Mein Kollege Matthias ist auf viele Songs schon detailliert eingegangen – da möchte ich gar nicht so viel ergänzen, nur vielleicht, dass wirklich auch wieder jede Minute auf diesem Album grandios ist, die wahre Stärke aber im Albumflow und dem Gesamteindruck steckt und trotzdem jeder zufällig gewählte Ausschnitt sofort nach OPETH klingt. Und ein Signature-Klang im Prog ist unfassbar schwer. Des Weiteren bin ich der Meinung, dass die folkig-träumerischen Melodien (weiterhin mit CAMEL-Bezug) schon lange nicht mehr so fantastisch waren. Da auch die erzählte Geschichte mit den entsprechenden Texten durchgängig fasziniert, kommen wir doch nochmal zu "Watershed" – so unfassbar gut war OPETH in der Tat zuletzt 2008 und da war es am Ende mein Album des Jahres.

Note: 9,5/10
[Stefan Rosenthal]

Ich glaube, über die Hintergründe des Albums, das Konzept und die Geschichte wurde bereits ausreichend geschrieben. Darum möchte ich sie an dieser Stelle auch gar nicht weiter ausführen, außer vielleicht, dass mir die Idee und Umsetzung gut gefällt. Bereits bei den Vorab-Singles '§1' und '§3' ist mir aufgefallen, wie gut der Text auf die Musik abgestimmt ist, fast wie ein Hörspiel oder ein Theaterstück, was sich auch auf Albumlänge bestätigt. Die Gastbeiträge sind passend dazu inszeniert, aber auch Åkerfeldt selbst brilliert facettenreich wie nie zuvor. Man muss nun zwar nicht die genauen Worte ständig zur Hand haben, die Musik funktioniert auch losgelöst davon, doch mit den Lyrics wird noch einmal eine ganz neue Dimension eröffnet.

"The Last Will And Testament" ist vor allem ein richtig schönes Progressive-Metal-Album geworden, wie man es von OPETH liebt und in dieser düsteren und harten Art lange nicht mehr bekommen hat, seit dem 2008er-Werk "Watershed", um genau zu sein. Und in der Tat erwischte ich mich beim Hören immer wieder mit dem Gedanken, dass das neue Album musikalisch und klangästhetisch mit seinem natürlichen und herrlich ausproduzierten Schlagzeugsound (ich könnte an dieser Stelle Bände über Waltteri Värynens famose Schlagzeugarbeit schreiben!) eine Fortsetzung von "Watershed" und in seinen "düsteren" Momenten von "Ghost Reveries" (2005), meinem Lieblingsalbum der Schweden, sein könnte.

Es sollte für jeden Prog-Aficionado ein Genuss sein, den acht Songs zu lauschen und bei jedem Spin ein weiteres Detail zu erkennen. Das Album funktioniert für mich jedoch nur am Stück, einen vermeintlichen "Hit" wie 'Deliverance', 'The Grand Conjuration' oder 'Porcelain Heart' findet man hier nicht, die Story steht oft über dem Song. Schließlich geht es also um das Gesamtkunstwerk, das in sich schlüssig sein muss. Daher finde ich es auch absolut folgerichtig, dass die Tracks ineinander übergehen, mit Ausnahme von '§5' zu '§6', was mich ehrlich gesagt jedes Mal etwas aufregt. Ein Fadeout, und das noch in einem so schönen Moment, wirklich? Ok, das ist Meckern auf hohem Niveau. Zudem kommt teilweise kein richtiger Flow auf, ein Song wie '§2' ist doch sehr zerstückelt. Auch hätte ich für ein derartiges Konzept wiederkehrende Musikmotive passend gefunden.

Doch unterm Strich ist "The Last Will And Testament" ein tolles Album geworden, das die Vergangenheit nicht negiert, sondern den Progressive Death Metal bis 2008 und den Progressive Rock ab 2011 gekonnt miteinander verbindet und weiterdenkt.

Note: 8,0/10
[Jakob Ehmke]

Da reize ich schon bis zur absoluten internen Deadline aus und habe wohl kein Album im Zuge unserer Gruppentherapien öfter einer intensiven Lauschuntersuchung unterzogen und bin am Ende doch nicht viel schlauer als während der ersten Durchläufe. Stand jetzt noch nicht ganz so euphorisiert wie die Kollegen Matthias und Stefan, aber auch nicht so positiv distanziert wie Tobias, finde ich mich gut bei der Einschätzung von Jakob wieder. Gerade die beiden erstgenannten Herren sind ja schon gehörig minutiös auf die einzelnen Songs eingegangen, so dass ich mir eine Feinanalyse an dieser Stelle erspare. Der werte Kollege Herr Hunger hat in einer parallel laufenden Gruppentherapie Worte gefunden, die ich auch hier gerne verwenden möchte: "Ein sehr eigenes, dennoch irgendwie vertraut klingendes Album. In ein paar Monaten hat es sich mir eventuell ganz erschlossen."

In einem Punkt bin ich mir jedoch sicher: Das Album gibt mir schon jetzt weit mehr als der in der Retrospektive doch eher blasse Vorgänger, welcher von Mikael Åkerfeldt seinerzeit ja nicht ganz unvollmundig als bandinternes "Meisterwerk" verstanden werden sollte. Dass irgendwann der erhoffte Hybrid aus Extremmetallischem und 70er-Prog kommen würde, war vielleicht nicht selbstverständlich, aber in letzter Instanz doch irgendwie konsequent und nachvollziehbar. Dieser ist, auch da bin ich mir bereits sicher, mehr als absolut gelungen. Alles weitere wird die Zeit zeigen. Aber Werke, denen man überdurchschnittlich viel Zeit widmen muss, damit sich deren Klasse halbwegs komplett erschließt, sind ja die Werke, die am Ende doch das Zeug zum potenziellen Klassiker mitbringen. Ach ja, das lyrische Konzept schreit zudem förmlich danach, für eine Miniserie von Mike Flanagan, dem Experten für düstere und schaurig-dysfunktionale Familiengeschichten, konzipiert zu werden.

Note: 8-10/10
[Stephan Lenze]

 

Es ist natürlich reizvoll und naheliegend, das neue Werk von OPETH in den Kontext der bandeigenen Historie einzubetten und viele meiner Kollegen "erliegen" genau dieser Versuchung. Ich stelle mal die provokante Frage, warum man das überhaupt tun sollte. Wenn es eine Band gibt, die nicht ständig auf die eigenen musikalischen (zugegebenermaßen) Glanztaten angesprochen und sich vielleicht sogar ein Stück weit darauf reduziert fühlen möchte, dann ist es vermutlich OPETH. Und es gibt ja viele Musiker, die einfach neue Wege beschreiten und sich immer wieder neu ausprobieren möchten und die es dann vielleicht auch mal nervt, zum Abschluss eines jeden Livekonzerts immer den einen großen Bandklassiker spielen zu müssen, weil sonst die Leute enttäuscht nach Hause gehen.

Daher, in aller Kürze und weil ich OPETH sowieso bereits seit einiger Zeit nicht mehr so intensiv gestalkt, äh verfolgt habe wie um die Jahrtausendwende herum: Dieses Konglomerat aus so vielen verschiedenen Stimmungen, Stilrichtungen, Schattierungen und einfach hervorragenden musikalischen Ideen steht doch für sich. Natürlich nehme ich Growls wahr (die wohl auf den letzten Alben weggelassen worden sind - eine Unverschämtheit der Band!), aber vor allem gibt es hier von Brachialmetal bis Jazz eine Vollbedienung für die Ohren (und die Emotionen), die wunderbar stringent und herrlich eingängig umgesetzt ist. Das bleibt doch auch so, egal wie das letzte Album dieser Band oder eines von vor 20 Jahren geklungen hat. Und doch ist mir die neue SÓLSTAFIR auch aufgrund meiner Verbundenheit mit der Band und dem Land noch einen halben Zähler mehr wert, so kann man die eigene Argumentation natürlich auch aufs Kreuz legen. Tja, so sind sie halt, die subjektiven Empfindungen.

Note: 9,0/10
[Stephan Voigtländer]


Fotocredits:
Terhi Ylimaeinen

 

Redakteur:
Thomas Becker
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