Gruppentherapie: SOLSTAFIR - "Hin Helga Kvöl"

30.11.2024 | 09:16

"Wenn man Island vertonen könnte, dann würde SÓLSTAFIR dabei herauskommen."

Ich war zwar noch nie in Island, kann aber verstehen, warum SÓLSTAFIR für viele die musikalische Inkarnation von Island ist. Heißt das nun, dass manche Soundchecker keine Island-Fans sind? Oder stimmen sie einfach nur dem Teaser-Zitat eines unserer Therapeuten nicht zu? Denn "Hin Helga Kvöl" landet nur im Mittelfeld des November-Soundchecks und einzig unser schwäbisches Nordlicht Rüdiger zückt hier eine hohe Note. Umso weiter greift Swen Reuter in seinem Hauptreview nach den Sternen. Wie werden die Therapeuten reagieren? Gibt es vielleicht noch einen Zehner oder verliert man sich auf der Suche nach einem schlüssigen Konzept? Ich weiß, ihr werdet die Antwort schon erahnen.


Für ein paar Jahre habe ich SÓLSTAFIR ziemlich abgefeiert. Höhepunkte waren für mich  wie vermutlich für viele  "Ótta" und auch "Berdreyminn", selbst wenn man einen leichten Veränderungsprozess auf dieser Scheibe wahrnehmen konnte, der für erste leichte Kritik gesorgt hat. Ich gebe jedoch zu, dass für mich mit "Endless Twilight of Codependent Love" ein Bruch kam. Urplötzlich hatte mich die Band verloren und irgendwie kam nicht die Hoffnung auf, dass es sich ändern würde. Dieses schlechte Gefühl hätte sogar fast dafür gesorgt, dass ich "Hin Helga Kvöl" verpasst hätte.

Dem ist zwar nicht so, aber leider hat sich die emotionale Lage nicht verbessert. Zwar startet die Scheibe mit 'Hún Andar' und 'Hin Helga Kvöl' ordentlich und es kommt ein wenig des typischen SÓLSTAFIR-Feelings auf, doch danach gleitet der Longplayer ab dem Pop-Rock-Track 'Blakkrakki' in die Beliebigkeit ab. Spätestens beim Lounge-Jazz in 'Kuml' kratze ich mich irritiert am Kopf. Ich verstehe nicht mehr, was mir die Band mitteilen möchte.

Zwar gibt es immer wieder Lichtblicke wie 'Grýla', doch echte Hits und ein stimmiges Gesamtkonzept kann ich nicht erkennen. Musikalisch gesehen sind die Lieder allesamt sicherlich nicht schlecht, denn Aðalbjörn Tryggvason und seine Mannen sind einfach gute Musiker. Aber ich glaube, unsere Welten passen nicht mehr zueinander. Möglicherweise ist es der Punkt, an dem sich unsere Wege in Dankbarkeit für viele schöne Momente trennen werden.

Note: 6,0/10
[Dominik Feldmann]

 

SÓLSTAFIR setzt auf dem neuen Album "Hin Helga Kvöl" auf eine sanfte, atmosphärische Eröffnung. Der Opener 'Hun Andar' stellt einen harten Kontrast zum folgenden Titelsong dar, bei dem das hammerharte SLAYER-Riffing mit entsprechender extrem gelungener Gesangspassage gegen Ende der Komposition sofort haften bleibt und nach Repeat schreit. Ziemliches Monstrum, der Song.

Danach geht es rockiger zur Sache, doch nicht lange, so finden wir uns in epischen Gefilden, naturhafte Klänge, atmosphärisch, lullen uns ein. Schon ein schräges Gemisch, das SÓLSTAFIR da wieder auffährt. Das akustische Break in 'Vor Ás' ist richtig gut. Dennoch ist diese sehr progressive, experimentelle Musik mit den schrägen Stimmen für mich auch schwer zu hören, zumindest zeitweise, bin ich doch jemand, der immer einen Flow erwartet, eine runde, abgestimmte Struktur der Arrangements, einen nachvollziehbaren Überbau sozusagen.

Die Kompositionen sind auf jeden Fall sehr kreativ, bieten zahlreiche Fallen, Kanten und melodische Serpentinen und wer Geduld hat, wird einiges entdecken. Der vorletzte Track ist dann sogar Black Metal, ich kann es nicht glauben. Sie haben wirklich alles drin, 70er, Songwriteransätze, flächigen Atmosphärenrock, metallische Klänge, sanfte Momente.

Am Ende kommt dann in einer Art längerem Outro noch ein Saxophon zum Einsatz, schamanische Gesänge und geisterhafter Hall führen geheimnisvoll aus dem Album, das ich mir auch nach mehreren Anläufen noch nicht ganz erschlossen habe. Es hat aber wirklich gute Momente und ich glaube, ich bin unwürdig, es jetzt schon zu rezensieren.

Note: 8,0/10
[Matthias Ehlert]

Den Namen SÓLSTAFIR, habe ich bis August dieses Jahres immer nur gelesen oder gehört, um ehrlich zu sein. Irgendwie, warum auch immer, ist diese Band an mir vorbeigegangen. Doch das sollte sich auf dem diesjährigen "Party.San" schlagartig ändern. Ich wollte mir das Ganze einmal live ansehen und schauen, was das isländische Gespann musikalisch zu bieten hat.

Und siehe da, dieser Abend, besser gesagt dieser Auftritt, fesselte mich dermaßen und überzeugte mich auf ganzer Linie, so dass ich an diesem Abend SÓLSTAFIR-Fan wurde. Ich arbeitete mich intensiv durch die Diskografie und meine Favoriten sind bis jetzt "Köld", "Svartir Sandar" und "Ótta". Umso spannender war es für mich als frischer, selbsternannter und mittlerweile begeisterter Hörer der Band, in Form von "Hin Helga Kvöl" direkt neues Material geliefert zu bekommen. In meinen Augen startet die Scheibe recht bandtypisch. Es kommt das gewohnte SÓLSTAFIR-Feeling in einem auf, wenn man 'Hún Andar' oder 'Hin Helga Kvöl' hört ein gelungener Start.

Mit 'Blakkrakki', kommt dann auf einmal eine sehr rockige, sehr modern wirkende Nummer daher, ein gänzlich anderes Feeling beziehungsweise nur noch ein Hauch von der typischen Bandnote, aber die Nummer gefällt mir ziemlich gut, um ehrlich zu sein! Auch 'Gryla' ist durchweg gelungen und für mich ein Highlight, genauso wie 'Vor Ás'. Die restlichen Songs sind nicht schlecht, es fehlt aber irgendwie der letzte Kick, oder die Scheibe braucht bei mir einfach noch ein wenig Zeit, um sich zu entfalten, das lasse ich mal offen an dieser Stelle. Das eher an Ambient erinnernde letzte Stück 'Kuml' ist dann aber zu viel für mich, kann mich einfach nicht abholen. Somit ist "Hin Helga Kvöl" ingesamt nicht so stark wie meine erwähnten Favoriten.

Note: 7,5/10
[Kevin Kleine]

 

SÓLSTAFIR ist so eine Band, die man nur schwer beschreiben kann und die mich seit der Tour des von mir heiß geliebten "Ótta"-Albums jedes Mal aufs Neue begeistern konnte. Vor allem live sind diese Cowboys von der Insel aus Feuer und Eis ein kaum definierbares Happening. Auch wenn die folgenden Alben "Berdreyminn" und "Endless Twilight Of Codependent Love" alles andere als leichte Kost waren, haben sie das mit "Hin Helga Kvöl" für meinen Geschmack nochmal schwieriger gemacht. Alleine der Titelsong ist eine unvermittelt heftige Ohrfeige, ein Black Metal-artiger Orkan, der am Ende rockt wie Bolle. Es wühlt mich innerlich so auf, wie es nur diesen Isländern gelingt. Ihre Musik ist wie ein Gemälde, gemalt mit schmutzigen Pinseln. Wenn man Island vertonen könnte, dann würde SÓLSTAFIR dabei herauskommen.

"Hin Helga Kvöl" greift dabei alle Schaffensphasen der Band auf. Neben dem Black Metal der Frühphase, werden mit 'Hún Andar' und dem staubtrockenen Rocker 'Blakkrakki' beispielsweise auch"Ótta"- und "Svartir Sandar"-Elemente eingeflochten. Und SÓLSTAFIR war auch schon immer speziell, vor allem durch Aðalbjörn Tryggvasons eigenwilligen Gesang, der irgendwo zwischen leidendem Gebrüll und melancholischem Gesäusel pendelt, aber auch durch die isländischen Texte, die man eher fühlt als versteht. Und dann gibt es Nummern wie 'Sálumessa', die vor sich hin mäandern und keinen wirklichen Sinn ergeben wollen.

Anfangs hat mich dieses Album wieder mal durch seine Kauzigkeit ratlos zurückgelassen. Doch mit jedem Durchlauf habe ich gemerkt: Diese Jungs wollen ihre Hörer fordern und es ihnen nicht einfach machen. Wie mein Namensvetter bereits erwähnt hat: 'Kuml' am Ende ist mir bislang auch zu abstrakt. Albtraum-Lounge-Jazz mit Saxophon. Oder sowas Ähnliches.

"Hin Helga Kvöl" ist für mich ein sehr eigenes, aber dennoch irgendwie vertraut klingendes Album. In ein paar Monaten hat es sich mir eventuell ganz erschlossen, doch momentan sind es primär die eingeschwärzte Rock'n'Roll-Facette isländischer Prägung, die ich hier bewundere, die aber auch nicht jedem gefallen kann und will.

Note: 8,5/10
[Kevin Hunger]

SÓLSTAFIR, wir müssen reden! Ja, ein ernstes Wörtchen. Ich mache mir Sorgen. Du und ich, wir würden so gut zusammenpassen. Du, die Band aus Island mit dem charakteristischen Sound. Ich, der im viel zu warmen Deutschland gerne gedanklich in nördliche Gefilde abschweift und schneller eine CD aus Island oder Norwegen eintütet als dein Drummer seine Becken nach einem Auftritt. Vor vier Jahren, da fand ich dein Album "Endless Twilight Of Codependent Love" ziemlich töfte. Und 2014, da hatte ich "Ótta" sogar 8,5 Punkte im Soundcheck gegeben.

Was ist nur geschehen? Hat sich mein Interesse an deiner zerbrechlichen Seele verflüchtigt? Musizierst du mit langatmigem Schnarch-Post-Rock ('Sálumessa') mit PINK FLOYD-Gedächtnisharmonien komplett an mir vorbei? Ist der Alltag zwischen uns getreten, hat er uns gar in unterschiedliche Richtungen geführt, wenn ich eine mutige Nummer wie 'Gryla' nicht mehr wertschätzen kann?

Es fühlt sich an wie eine Post-Mortem-Analyse, für die ich eigentlich noch nicht bereit bin. Ist da etwa noch was zu retten? Sogar die Black-Metal-Einflüsse eines 'Hin Helga Kvöl' bezirzen mich nicht. Ich bin mir sicher, es wird wieder eine Zeit für uns geben. Diese ist "Hin Helga Kvöl" allerdings nicht.

Note: 6,0/10
[Nils Macher]

 

Ein bisschen traurig war ich anfangs schon, dass ich für die neue Platte nicht meinen Hut in den Hauptreview-Ring geworfen habe, andererseits haben die Gruppentherapie-Texte den Vorteil, dass man sich doch ein wenig der "musikkritischen und journalistischen Fesseln" die es bei uns glücklicherweise ja überhaupt gar nicht gibt  entledigen und völlig frei und assoziativ drauflos schreiben kann. Nach der Lektüre von Swens Review bin ich aber doch sehr erleichtert. Besser und treffender hätte ich das auch nie auf den Punkt bringen können. Chapeau, Herr Kollege!

Erstmals auf die Band aufmerksam geworden bin ich durch ihren dortigen Live-Auftritt irgendwann Mitte der 2010er Jahre auf dem "Wave-Gotik-Treffen" in Leipzig. Toll fand ich die Isländer damals schon und habe daraufhin auch immer mal wieder quer in Sachen hineingehört. Einiges fand ich ziemlich geil, anderes eher weniger. Ein Tonträger steht bis heute aus nun unerfindlichen Gründen nicht im Regal, was sich in naher Zukunft allerdings definitiv ändern wird, denn der aktuelle Output hatte mich vom ersten Spin an den emotionalen Eiern gepackt.

Solch eine traumhafte, melancholische und wunderschön schmerzhafte Tour de Force, gegossen in zauberhafte und vor allem so unterschiedliche Klanglandschaften, habe ich schon verdammt lange nicht mehr gehört. Die Platte dockt, zumindest in meinem Fall, an wohl alle verfügbaren emotionalen Synapsen an, verharrt dort jeweils eine Weile, nur um einen Song später zum nächsten Gefühlsneuron weiter zu schweben. Musik, du bist und bleibst die erhabenste und wirkungsmächtigste aller Kunstformen! Allein die emotionalen Göttergaben 'Sálumessa' und 'Freygátan', die Granaten-Riffs im Titelsong, die oftmals wiederkehrenden sphärischen Gitarrenwände, das blackmetallische Kurzgewitter in 'Nú mun ljósið deyja', diese spiralartige, von Chören und Saxophon begleitete und sonst nicht in Worte zu fassende Klangkaskade 'Kuml (Forspil, Sálmur, Kveðja)'. Das Album macht mich im allergesündesten Sinne fertig. Und ich habe nun auch fertig.

Anspieltipps: JEDER SONG!

Note: 10/10
[Stephan Lenze]

Dass man bei SÓLSTAFIR auch mal irritiert ob des Gehörten sein kann oder sich zumindest nicht immer abgeholt fühlt, ist ganz normal, liebe Kollegen  gerade im Setting einer Gruppentherapie. Immerhin haben wir mit "Hin Helga Kvöl" ein Werk vorliegen, das noch mehr auf Abwechslung und die Kombination völlig unterschiedlicher Stilrichtungen und Schattierungen setzt als zuvor, und die Isländer sind ja eh eine Band mit einem sehr individuellen, ja auch eigenwilligen Gesamtsound. Das dauert, bis man es verinnerlicht hat, und ohne den berüchtigten lodernden Zündfunken in der kalten und schroffen isländischen Eislandschaft kann man mit dem Album natürlich auch nicht in Gänze warm werden.

Ich habe ihn inzwischen zum Brennen gebracht und ganz wie meinen Vorredner und Namensvetter lässt mich die Scheibe ebenfalls nicht mehr los, auch wenn sie mich ein kleines Stückchen weiter nördlich packt als ihn. Da zu den einzelnen Songs nun schon genug geschrieben wurde, möchte ich nur noch einmal Kevins Einwurf aufgreifen, dass es nur sehr wenigen Bands in einem Maße gelingt ihre Heimat zu vertonen wie SÓLSTAFIR. Wer schon mal in der einzigartigen isländischen Natur wandelte, dem müssen beim Genuss der Musik dieser Band unweigerlich diese Bilder vor dem geistigen Auge erscheinen  und das gilt in meinem Fall mehr noch für die schroffen, einen unwirtlichen und urtypischen Eindruck vermittelnden, dem Black Metal nahestehenden Passagen als für die ebenfalls tollen atmosphärisch-emotionalen Klanglandschaften. Was auch immer SÓLSTAFIR auf diesem Album anpackt, es gelingt (auch der sehr ungewöhnliche Albumabschluss 'Kuml'), und die Veredelung der Musik mit dieser eindrucksvollen und ausdrucksstarken isländischen Sprache ist dann eh noch die Spitze des Eisgletschers.

Note: 9,5/10
[Stephan Voigtländer]

 

Redakteur:
Thomas Becker

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