Perlen der Redaktion: Thomas Beckers Highlights 2020

31.01.2021 | 15:48

Bleibt denn nichts von dem was war?

"Es bleibt nichts von dem was war..."

Der Teaser ist angelehnt an eine Textzeile von meinem Album des Jahres. Und ein paar Phrasen daraus sind so toll, dass ich sie im Laufe des Textes verwenden möchte.

Tja, 2020, dieses Jahr wird wohl allen in Erinnerung bleiben. Doch ich möchte euch nicht mit Dingen nerven, die ich selber nicht mehr hören kann. Lasst uns deshalb lieber über das sprechen, was wir immer und immer wieder gerne um uns haben, über die geliebte Musik! Doch auch dort gibt es über die Jahre Verschiebungen in den Präferenzen, in den Erwartungen, in der Wahrnehmung, und von daher ist die Teaserfrage ein guter Aufhänger für meinen Jahresrückblick.

2020 war ein Jahr mit erstaunlich vielen Releases von Bands, die in der Vergangenheit schon mal  Euphoriewellen ausgelöst haben. Hier waren für mich die 90er sehr wichtig, in denen Bands wie SEPULTURA und PARADISE LOST, FATES WARNING und PSYCHOTIC WALTZ, MY DYING BRIDE und KATATONIA - allesamt Kandidaten für einen Stockerlplatz in den Jahrescharts - Heldentaten vollbracht haben. Wo landen diese anno 2020? Und wie schlagen sich die neueren Acts und die Youngster im Vergleich?

Nun, wie ihr unten seht, ist ein recht bunter Mix auf meiner Liste gelandet, und die Auswahl war sehr schwer, weil es noch eine Menge mehr guter bis sehr guter Alben gab, die eine Erwähnung verdient hätten. Deswegen könnt ihr in  meiner Liste der besten Songs auch empfehlenswerte Interpreten sehen, die es auf Albenlänge nicht ganz geschafft haben.

Was die Medaillenränge angeht, gab es aber absolut keinen Zweifel, denn hier landen drei Alben, die sich noch sehr, sehr lange in meinem Aufmerksamkeitshorizont befinden werden.

"Bist Du bereit, wenn der Tanz beginnt?"

Als ich vor fünf Jahren von seinen leidenschaftlichen Fans infiziert wurde, war noch nicht abzusehen, dass die Musik von THOMAS GODOJ eine so starke Wirkung haben würde. Doch seitdem verfolge ich ihn stetig, live wie auf Konserve und anno 2020 versorgt er uns einfach mit genau dem "Stoff", der meinen Nerv am treffendsten anregt. Es ist eine Granate von einem Album, das in allen Belangen (Klang, Texte, Lebensgefühl) zeitgemäß ist. Es ist oftmals bitter ernst und zeigt auf, was alles schief läuft heutzutage, hat aber stets das Positive und Hoffnungsvolle im Blick. Es hat mir dieses Jahr einfach die meisten Gänsehautmomente beschert, wurde am lautesten aufgedreht, hat die größte Sucht nach Energie hervorgerufen und wächst mit jedem Durchlauf noch ein Stückchen weiter.

Deshalb ist die Platzierung nur logisch und absolut verdient, auch wenn man sieht, wie hochwertig die Vorgängeralben schon waren. Und dennoch war die Entscheidung für GODOJ auf Platz eins auf der Kippe. Denn CRIPPLED BLACK PHOENIX, der große schwarze Vogel, der mir in den letzten Jahren ein wenig davongeflogen war, hat sich mit "Ellengaest" eindrucksvoll zurück in meine Ohren gespielt.

"Infiziert mit dem tödlichen Virus Homo Sapiens..."

Die Entscheidung vom Hirn des Phoenix, Justin Greaves, die faszinierende Belinda Kordic zur Haupt-Sängerin zu machen und um sie herum eine Reihe großartiger Interpreten zu scharen (u.a. Vincent Cavanagh, Gaahl, Jonathan Hulten) hat sich in meinen Ohren mehr als ausgezahlt und die Endzeithymne 'Lost' ist für mich der absolute Song des Jahres. Ein nervenaufreibender musikalischer Essay auf den Abgesang der Menschheit und ihren fortschreitenden moralischen Verfall. Das Video dazu ist passend nichts für schwache Nerven.

Der dritte Stockerlplatz geht dann endlich an einen der alten Helden. Zu meiner großen Überraschung ist es aber nicht "A God-Shaped Void" von PSYCHOTIC WALTZ, sondern "Obsidian" von PARADISE LOST, welches mir nachhaltige Gänsehautschauer beschert. Habe ich den Vorgänger noch böse abgestraft, so packt mich "Obsidian" vom ersten Ton an. Die Magie von "Icon" und "One Second" ist wieder da, die Growl-Passagen sind nicht Zweck an sich, sondern punktgenau gesetzt und Greg Mackintosh zelebriert die tollsten "sorrow leads" seit langer Zeit. Und dennoch klingt hier nichts verstaubt und wiederverwertet. Einfach toll!

Nach diesen drei Überfliegern kommt aber noch sehr viel Qualität aus unterschiedlichsten Richtungen. Verblüfft war ich zunächst einmal von einem "big shot" und Soundcheck-Sieger namens SEPULTURA, der mir mit "Quadra" die Augen dafür öffnete, die Brasilianer als technisch und kompositorisch höchst anspruchsvolle Einheit zu betrachten. Was da alles passiert! Eine weitere Ecke, aus der ich nicht allzu viel erwartet habe, ist PRIMAL FEAR. Aber hallo, irgendwie packt mich das alte Teutonenflaggschiff mit seinem "Metal Commando" (Soundcheck-Zweiter) und vor allem mit dem Übersong 'Infinity' mehr als so manch alter Favorit. Aber auch in weniger metallischen Gefilden stimme ich denjenigen meiner Kollegen voll zu, die DOOL, WYTCH HAZEL und das NIGHT FLIGHT ORCHESTRA für die besten Bands halten, die verschiedenste Stimmungen der 80er-Jahre in die Gegenwart tragen. In dieser Kategorie kann ich als Bonus auch den Newcomer CHALICE empfehlen, der mir am Ende des Jahres ein paar schöne Stunden beschert hat.

"Auch ein Ende kann ein Anfang sein..."

Dies gilt insbesondere für zwei unter Musikfreunden heißerwartete Comebacks, nämlich von CIRITH UNGOL und PSYCHOTIC WALTZ (dazu später). Und natürlich hat mich Kollege Stehle erfolgreich in seine neue alte CIRITH UNGOL-Welt aufgenommen. "Forever Black" ist wirklich eine tolles, völlig individuelles und denkwürdiges Metal-Album. Ein weiterer Act aus dem metallischen Underground sind die Veteranen von DARK QUARTERER, die ich in der Tat noch nie so stark erlebt habe wie auf "Pompei", einem toll arrangierten Konzeptalbum über den Ausbruch des Vesuv im Altertum. Sehr altertümlich kommt auch WOBBLER daher, aber hey, seit langem habe ich keine Band mehr erlebt, die den skandinavischen Retro Prog der Sorte ÄNGLAGARD/THE FLOWER KINGS so spritzig und gewitzt darbietet. Noch lieber ist mir aber, wenn Prog neue Türen öffnet, Grenzen sprengt und eigene Wege geht. Hier kann ich einmal mehr auf THY CATAFALQUE verweisen, denn Tamas Katai ist und bleibt ein musikalischer Querkopf und bietet einfach die Art Musik, die abseits der gängigen Strömungen steht. Ein weiterer Querkopf ist Daniel Gildenlöw von PAIN OF SALVATION, doch hier ist es genau umgekehrt. Ich komme zunehmend mit seiner musikalischen und vor allem klanglichen Ausrichtung in Konflikt, irgendwie passt es mit uns nicht mehr, auch wenn "Panther" mit 'Wait' einen feinen Song zu bieten hat. Das ist aber zu wenig. Deutlich mehr gibt mir hier eine Neuentdeckung in der Kategorie "Wortsinnprog", nämlich THE BURDEN REMAINS aus der Schweiz, eine faszinierende Mischung aus modernen Prog-Sounds, düsteren Collagen und...SOLSTAFIR! A propos SOLSTAFIR: Noch so ein "Album des Jahres"-Kandidat, der 2020 ein Album hatte, aber knapp meine Top20 verpasst hat.

Dasselbe Schicksal ereilt auch "Long Day Good Night" meiner 90er-Helden FATES WARNING, die aber seit Jahren nur noch punktuell meinen Nerv treffen und mir insgesamt zu wenig Überraschung liefern. Ähnliches gilt für KATATONIA, die mir zu sehr auf den "intelligenten" Alterna-/Modern-Prog-Zug aufspringen und dadurch irgendwie an Identität verlieren. Dennoch hieven drei absolut große Songs "City Burials" in die Top20.

Und damit sind wir endlich bei PSYCHOTIC WALTZ, jahrelang eine meiner absoluten Lieblinge. Denn Musik kann einfach kaum besser sein als auf der 1992er Wundertüte "Into The Everflow". Doch obwohl "A God-Shaped Void" von vorne bis hinten ein wunderbares Album ist, bei dem eigentlich alles passt, und das ich auch sehr genießen kann, kommt einfach nicht mehr dieses Hochgefühl auf. Kein altes und kein neues. Das ist bei den Top drei bis fünf einfach anders.

"Ich sage Dir, das Jetzt und Hier ist das Beste was uns grad passiert"

So kommen wir von meinen alten Faves nun zu weiteren in meiner Gunst aufstrebenden Bands und Neuentdeckungen. Fangen wir an mit BEYOND THE BLACK, über deren Extraklasse ich wohl nicht mehr berichten muss. Und auch "Horizons" ist wieder eine Granate an (poppigen) Melodien, Emotionen und jeder Menge Euphorie. Wenn man so etwas mag, gibt es kaum etwas Besseres. Dass mein Sieger von 2018 diesmal etwas weiter hinten steht, ist wohl nur dem Umstand geschuldet, dass ich das Album erst sehr spät "richtig" angehört habe. Fast vergessen und deshalb gefühlt so gut wie neu habe ich GREEN CARNATION mit dem Comeback "Leaves Of Yesteryear", das für Freude sorgt. Welcome back, Tchort! Auch kein Newcomer, aber frisch auf dem Schirm ist MOTHER'S CAKE, eine verrückte Mischung aus Rock, Funk, Crossover und Psych, der mich mit seiner frischen Art einmal mehr in die 90er blicken lässt, wo RAGE AGAINST THE MACHINE, RED HOT CHILI PEPPERS und SAIGON KICK für Furore sorgten. "Cyberfunk!" ist auf gewisse Weise eine heutige Version dieser Zeit. Sehr spannend! Etwas konventioneller, aber auch mit jeder Menge 90er-Gefühl ist THE SPACE OCTOPUS. Das ist ein Projekt des spanischen Gitarrenhexers Dann Hoyos, das mit viel Gespür für Melodie und großartigen Gitarrenleads meine Aufmerksamkeit nachhaltig erregt hat. Hoyos postet auch immer wieder spannende Gitarrenvideos auf YouTube, wo er seine Tricks zeigt. Frickelfans sollten mal vorbei schauen.

So, und nun noch ein kleiner Blick zu den tief verborgenen Schätzen. Deren Entdeckung ist 2020 leider etwas zu kurz gekommen, weil die Soundcheckarbeit wieder (zu viel?) Spaß gemacht und Hörzeit fürs Ausbuddeln dieser Perlen geraubt hat. Deshalb hier nur drei Empfehlungen. Die erste ist aus der von mir sehr geschätzten Kategorie "Doom mit Frau" und war völlig großartig: ADLIGA aus Belarus reißt mich mit der Debüt-EP "Kali Paciače Nieb" ganz tief mit. Das ist wie in einer anderen Welt! Eine große Hoffnung im Progressive-Bereich ist MORNING BELL, die auf "Slide Back Into Misery" mit feinstem Artwork und sehr beeindruckendem Songwriting hoffentlich bald weit nach vorne prescht. Und wer tief in instrumentale Welten eintauchen möchte, hat bekanntlich sehr viel Auswahl. Hier möchte ich eine Lanze für YUKON DELTA WILDLIFE REFUGE brechen. Die Band versucht, die Faszination der Natur in Musik zu transformieren, und was hochtrabend klingt, gelingt auf "Blitz Sessions" meines Erachtens tatsächlich.

Die Botschaft aus dem All

Tja und dies bringt mich wieder zurück zu meinem Jahressieger. Sein 'Astronaut' schickt uns eine warnende Botschaft aus dem All. Was ist, wenn uns oder unseren Kindern bald nur noch Bücher oder Bands wie YUKON DELTA WILDLIFE REFUGE bleiben, um zu sehen, wie schön die Erde mal war? Ich wünsche mir für 2021 und für die Jahre danach, dass wir Menschen endlich aufhören, im Rückwärtsgang durch Einbahnstraßen zu fahren. Und, natürlich, dass wir endlich bald wieder das bekommen, was uns Musikliebhabern so sehr fehlt: (Live-)Stoff, der glücklich macht!

Hier meine Liste mit den 20 auserwählten Alben.

Rang
Band Album
1. Godoj, Thomas Stoff
2. Crippled Black Phoenix Ellengaest
3. Paradise Lost Obsidian
4. Dool Summerland
5. Wytch Hazel III:Pentecost
6. The Burden Remains Fluid
7. Beyond The Black Horizons
8. The Night Flight Orchestra Aeromantics
9. Cirith Ungol Forever Black
10. Wobbler Dweller Of The Deep
11. Thy Catafalque Naiv
12. Sepultura Quadra
13. Psychotic Waltz A God-Shaped Void
14. Katatonia City Burials
15. Green Carnation Leaves Of Yesteryear
16. The Space Octopus Tomorrow We'll Be Gone
17. Mother's Cake Cyberfunk
18. Dark Quarterer Pompei
19. Chalice Trembling Crown
20. Primal Fear Metal Commando

Und hier noch meine Top20-Songs:

1. Crippled Black Phoenix Lost
2. Thomas Godoj Astronaut
3. Paradise Lost Ghosts
4. Night Flight Orchestra Divinyls
5. Shardana Echoes
6. Primal Fear Infinity
7. Them The Thin Veil
8. Sepultura Guardians Of The Earth
9. Dool God Particle
10. Green Carnation My Dark Reflections Of Live And Death
11. Katatonia Hearts Set To Divide
12. Psychotic Waltz Devils And Angels
13. Cirith Ungol Forever Black
14. Serpent's Oath Serpents Of Eight
15. Wytch Hazel I Will Not
16. Chalice Hunger Of Depth
17. My Dying Bride Tired Of Tears
18. Fates Warning The Longest Shadow Of The Day
19. Dark Quarterer Forever
20. Pain Of Salvation Wait


Redakteur:
Thomas Becker
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