Perlen der Redaktion: Nils Machers Highlights 2024
08.01.2025 | 18:13Ein bockstarkes Musikjahr in der Retrospektive.
Der in unseren Kreisen inzwischen weitgehend bekannte Soziologe Hartmut Rosa beschreibt Metal als ein "trotziges Trotzdem". Ein "Trotzdem" gegenüber dem Weltgeschehen, das die einen Musiker als Inspiration für ihre tiefgründig-brutale Kunst und die anderen als Ausgangspunkt für Eskapismus betrachten. Die Metalszene ist bei allen Entwicklungen die Konstante, die uns bei Laune und Vernunft hält. Schauen wir gemeinsam auf einen der stärksten Jahrgänge dieses Jahrtausends.
Im Gegensatz zu manch anderem Jahrgang bin ich mir bei der diesjährigen Spitzenplatzierung sicher, dass sie auch in einigen Jahren nichts an Strahlkraft eingebüßt haben wird.
Die Rede ist selbstverständlich von BLOOD INCANTATIONs Opus magnum "Absolut Elsewhere". Selten gelingt es einem Album, mich über Wochen hinweg so für sich einzunehmen. Natürlich ist der Ansatz, dem urwüchsigen und traditionsbewussten Death-Metal-Zutaten aus proggig-elektronischer Richtung beizumischen, nicht neu.
Bisher hat das aber noch niemand so überzeugend, ja geradezu mit einem Füllhorn an Chuzpe für die Ewigkeit festgehalten. Anspieltipps entfallen selbstverständlich, sind ja nur zwei Songs.
Platz 2 bleibt in Deutschland, ja sogar in meiner Heimat Dortmund. Wer dachte, im traditionsbewussten Doom-Genre sei alles gesagt worden, wird von AIWAZ eines Besseren belehrt. Das Album mit WHEEL-Sänger Akardius am Mikro zeigt: In Dortmunder Hochöfen wird immer noch Stahl produziert; Besonderheit: mit Gänsehaut! An Emotionalität kaum zu überbieten, ist "Darrkh...It Is!" ein Kleinod, wie man es nur alle paar Jahre auf den Plattenteller serviert bekommt. Jeder Song hat das Zeug, einem das Herz aus der Brust zu reißen. Die famosen Gesangsmelodien sind zwar durch Zerbrechlichkeit gestaltet, hallen aber in meinem Kopf wider, seit ich sie das erste Mal gehört habe. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass das auch noch lange so bleiben wird. Anspieltipp: 'The Ghost That Once Was I'
Wir bleiben in Europa, genauer gesagt in Dänemark und auf den Faröer Inseln. IOTUNNs Debüt "Access All Worlds" gehörte zu den Highlights im Jahr 2021 und der Nachfolger "Kinship" hat es geschafft, noch eine Schippe draufzulegen. Noch besseres Songwriting, noch packendere Spannungsbögen, noch mehr Ohrwurm-Potenzial. Jeder Song ist fantastisch, aber insbesondere die langen, das Album einrahmenden Stücke 'Kinship Elegiac' und 'The Anguished Ethereal' sind eine Machtdemonstration. Jón Aldaras Gesang erreicht hier seinen absoluten Höhepunkt und ich frage mich, wie die Gräs-Brüder an den Gitarren das jemals toppen wollen. In jedem "normalen" Musikjahrgang wäre "Kinship" ein Album des Jahres geworden.
Das gilt im Prinzip auch für die beiden nächsten Plätze, deren Bewertung mit 9,5/10 ich nach wie vor unterschreibe:
OPETH und WITHERFALL hatten hohe Erwartungen meinerseits und beide haben geliefert. Die Schweden liefern ohne Vorwarnung mein liebstes Album seit "Watershed" (einem erklärten Favoriten), bei dem ich die Rückkehr der Growls sogar als kleines Detail verbuchen würde. Große Pluspunkte gibt es auf "The Last Will And Testament" für die düstere Atmosphäre, die auch in technischen und lauten Momenten immer präsent ist.
In WITHERFALL sehe ich eine Band für die Festivalbühnen der Zukunft. Wäre da nicht der verbesserungsfähige Mainstream-Geschmack des Eventpublikums, der so fantastische Musiker wie Jake Dreyer und Joseph Michael in die kleinen Clubs zieht. Wer Songs wie 'They Will Let You Down' schreibt, hat mehr verdient. "Sounds Of The Forgotten" ist alles andere als zum Vergessen.
Es wird extremer, denn mit CHAOS INVOCATION kommt der erste Black-Metal-Release meiner Topliste auf Platz 6. Zugegeben, so richtig auf dem Schirm hatte ich die Band nicht, dabei ist die Truppe seit 20 Jahren aktiv und hatte schon vier starke Alben veröffentlicht. "Wherever We Roam..." war im Stegreif dazu in der Lage, mich süchtig nach der Band zu machen und ich freue mich schon auf die Fortsetzung, die den Satz des Albumtitels vervollständigen wird. 'Ideal Sodom' dürfte als Anspieler genügen, um die Klasse des Albums zu erahnen. Wir müssen schließlich weiter, und zwar zum "Alles oder nichts"-Album TRIBULATIONs. Ohne Jonathan Hultén, dafür mit neuem Esprit beim Songwriting, mit Klargesang und ohne Ausreißer nach unten. "Sub Rosa In Æternum" rockt!
Das abschließende Trio meiner Top 10 könnte unterschiedlicher nicht sein. Platz 8 gehört der norwegischen Prog-Combo RENDEZVOUS POINT, deren knackiges Songwriting mich in Gänze mehr überzeugen konnte als das neue, ebenfalls gute LEPROUS-Album. Mit deutlich weniger Noten und einer völlig anderen Ästhetik doomen sich THE GATES OF SLUMBER auf ihrer Comeback-Platte in meine Jahresliste. Geilster Bass-Sound des Jahres? Check. Ohne Extravaganzen, das ist die Perfektion für Puristen.
Schließlich landet eine absolute Überraschung (für mich jedenfalls) auf Platz 10: GRENDEL'S SŸSTER. Ich habe explizit die deutschsprachige Fassung des neuen Albums in die Liste aufgenommen, da sie die Leichtigkeit der Musik noch besser transportiert als die englischsprachige Version. "Abstieg In Die Traumkammer" ist verschroben, kauzig, lieblich, eingängig. Schräge Musik für die Nische in der Nische. Love it!
Mit jedem weiteren Platz wird mir deutlich, dass die Liste an einem anderen Tag anders aussehen könnte. Denn die neuen Alben von LEPROUS, KHOLD, CRYPT SERMON oder PANZERFAUST könnten je nach Laune auch einige Plätze höher stehen. Unter diesen Plätzen tummeln sich aber auch Bands, die vielleicht nicht an jeder Ecke die verdiente Aufmerksamkeit bekommen. BEDSOREs neues Album "Dreaming The Strife For Love" ist so ein Kandidat. Die Italiener verweben Prog und Death Metal ganz anders als die bereits genannten Nutznießer dieser Legierung und haben sich bei mir in kürzester Zeit nach oben gespielt. Ebenfalls sehr eigenwillig ist das Debüt von LORD GOBLIN, zu dem man eigentlich nur sagen sollte: Hört es einfach selber! Epic Metal mit Black-Metal-Einflüssen, was kann es besseres geben? Aber auch das jüngste HEXENBRETT-Album "Dritte Beschwörung: Dem Teufel Eine Tochter" ist aus der Feinkostabteilung. Nicht nur der absolute Hit 'Imhotep' zeugt von den stilsicheren Einflüssen des Duos, für meine Begriffe hat sich die Band hier in jeglicher Hinsicht noch einmal gesteigert.
Es war neben wahnsinnig vielen sehr guten Veröffentlichungen auch ein tolles Jahr für Konzerte. In erster Linie liegt das an der Rückkehr des verlorenen Sohnes Mike Portnoy. Auch wenn ich DREAM THEATER in den letzten Jahren die Stange gehalten habe, zählten die beiden Gigs in Köln und Frankfurt dieses Jahr zu den emotionalsten Konzerten meines Lebens. Von diesem tränenreichen in Erfüllung gegangenen Traum (no pun intended) war von Stadion-Show (RAMMSTEIN legt Gelsenkirchen in Schutt und Asche) bis zu Underground-Freudenfest (WITHERFALL in Bochum) vieles dabei, das mein Konzertgänger-Herz höher schlagen ließ. Ein ganz persönliches Highlight war das "Rock Hard Festival", das neben zahlreichen tollen Gigs auch ein herzliches Wiedersehen mit einem großen Teil unserer Crew für mich bereithielt und meine schreiberische Pause beendete. Danke dafür an die Kollegen vom Rock Hard!
Bevor wir uns mit dem Artwork des Jahres verabschieden, soll auch die Enttäuschung des Jahres ihre Erwähnung finden: So sympathisch ich DARKTHRONE finde, so egaler gerät der inflationäre und teils provinzielle Output in den letzten Jahren. Auf den meisten Platten sind vereinzelt gute Songs vertreten, aber "It Beckons Us All..." lebt einzig und allein vom großen Namen DARKTHRONEs.
Ich mag ja sympathische Underground-Bands. Vor allem wenn diese es schaffen, auch mit Krisen fertig zu werden und aus diesen gestärkt herauskommen. CRYPT SERMON ist neben der musikalischen Größe auch mein Artwork des Jahres, gemalt von Sänger Brooks Wilson. Ein wunderbarer Einstieg in die Story von "A Stygian Rose".
Hier meine Bestenliste der Alben aus 2024:
Rang |
Band | Album |
01. | BLOOD INCANTATION | Absolut Elsewhere |
02. | AIWAZ | Darrkh...It Is! |
03. | IOTUNN | Kinship |
04. | OPETH | The Last Will And Testament |
05. | WITHERFALL | Sounds Of The Forgotten |
06. | CHAOS INVOCATION | Wherever We Roam... |
07. | TRIBULATION | Sub Rosa In Æternum |
08. | RENDEZVOUS POINT | Dream Chaser |
09. | THE GATES OF SLUMBER | The Gates Of Slumber |
10. | GRENDEL'S SŸSTER | Abstieg in die Traumkammer |
11. | KHOLD | Du dømmes til Død |
12. | LEPROUS | Melodies Of Atonement |
13. | BEDSORE | Dreaming The Strife For Love |
14. | CRYPT SERMON | The Stygian Rose |
15. | PANZERFAUST | The Suns of Perdition - Chapter IV: To Shadow Zion |
16. | LORD GOBLIN | Lord Goblin |
17. | TRIUMPHER | Spirit Invictus |
18. | WHOREDOM RIFE | Den Vrede Makt |
19. | HEXENBRETT | Dritte Beschwörung: Dem Teufel eine Tochter |
20. | SARKE | Endo Feight |
- Redakteur:
- Nils Macher