Perlen der Redaktion: Rüdiger Stehles Highlights 2020

26.01.2021 | 20:42

Wenn von der besten Band aller Zeiten in einem Jahr zwei Alben und eine Single erscheinen.

Als am Silvesterabend die Datumsanzeige umsprang, war sich wohl jeder von uns bewusst, dass da gerade ein Jahr wie kein anderes zu Ende gegangen war, und ob das nächste viel besser werden wird, steht leider noch in den Sternen. Doch auch wenn uns allen die Konzerte, die Begegnungen, die gemeinsamen Musikabende, Proben und vieles mehr gefehlt haben, so war es dann doch wieder die Musik, die uns auch aufgebaut hat. Daher geht ein dickes Dankeschön an dieser Stelle an all die Musiker, die uns trotz der großen Krise der Branche und damit verbundenen oftmals sehr ernsthaften Existenzängsten mit neuen Alben, mit neuen Liedern und mit Quarantäne-Konzerten per Online-Stream dabei geholfen haben, dass uns nicht die Decke auf den Kopf fällt. Wollen wir daher einen Blick darauf werfen, welche Bands und welche Alben 2020 auch ein Stück weit zu einem guten Jahr werden ließen:

Zuvorderst habe ich natürlich jene Band zu nennen, die auch meine letzten Jahresrückblicke dominiert hat. Die Rede ist wenig überraschend von CIRITH UNGOL, denn diese wiedererwachte Legende eilt seit ihrer Reunion von Höhepunkt zu Höhepunkt. Hätte man mir je gesagt, dass ich einmal ein Jahr erleben würde, in welchem meine Lieblingsband ganze zwei Alben und eine Single veröffentlichen wird, dann hätte ich es - das dürfte jedem klar sein - natürlich nie geglaubt. Doch ausgerechnet das weltweite Krisenjahr 2020 sollte dieses Jahr werden, was ja gar nicht so schlecht zum durchaus apokalyptischen Nimbus der Band passt, und mit "Forever Black" haben uns die Kalifornier dementsprechend auch ihr erstes brandneues Studioalbum seit 1991 kredenzt, das sich hinter keinem der bandeigenen Klassiker verstecken muss, und zum Nikolaustag gab es dann noch ein so besonderes wie überraschendes Schmankerl in Form des "Orange Album"-Demos von 1978, das zuvor tatsächlich kaum jemand je gehört hatte oder gar besaß, und das als Faksimile-Tape neu veröffentlicht worden ist. Die Kollegen vom Decibel-Magazin durften zusätzlich noch exklusiv die Single 'Brutish Manchild' unter die Leute bringen, so dass es für den CIRITH UNGOL-Fan im Zweifel niemals bessere Zeiten gab. Wer also meine Jahrescharts doppelt anführt, bedarf keiner weiteren Erörterung, denke ich, und so geben wir als nächstes bekannt, dass das Stockerl komplettiert wird von einer Band, die ein ganz ähnliches Comeback hingelegt hat wie die vorgenannte Kapelle, und zwar von PSYCHOTIC WALTZ. Wie bei CIRITH UNGOL war mir schon im Vorfeld relativ klar, dass die 90er-Prog-Heroen abliefern würden. Das Gefühl war schlicht in beiden Fällen von Anfang an gut, und es sagte: "Wenn die ein Comeback versuchen, dann machen sie es richtig!" Und genau das ist WALTZ mit "The God-Shaped Void" auch gelungen. Eine wundervolle, gefühlvolle Scheibe, die ebenfalls nicht hinter das legendäre Frühwerk zurück fällt, und für mich die Magie atmet, die PSYCHOTIC WALTZ stets ausgemacht hat.

Es folgt sodann ein Trio mit einem erheblich größeren Anteil Schwarz. Sehr spät im Jahr, fast zu spät für diesen Jahresrückblick, dafür aber umso heftiger, liefert Österreichs Black-Metal-Export Nr. 1 ABIGOR mit "Totschläger" ein echtes Wunderwerk und für mich das Black-Metal-Album des Jahres; gefolgt von den Genre-Vorvätern SODOM, die eine erneute Drehung des Bandkarussels sehr gut überstanden und mit "Genesis XIX" ein sehr beachtliches Scheibchen eingetütet haben, das frisch und anders klingt als zuletzt. Auch an die Schweden von NECROPHOBIC geht für ihr urwüchsiges, stürmisches Album "Dawn Of The Damned" ebenso mein Dank, wie auch dafür, dass die Jungs im Frühjahr unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein wunderbares Konzert gespielt und für ihre Fans gestreamt haben. Es war mein einziges Konzert, das ich 2020 gesehen habe. Weniger mit Schwärze denn mit angelsächsischer Mystik und Folklore begeistern die alten NWoBHM-Recken ELIXIR mit ihrem herrlichen neuen Konzeptwerk "Voyage Of The Eagle", das in Sachen Musik, Lyrik und Artwork bemerkenswerte Akzente setzt, während die progressiven isländisch-norwegischen Viking Metaller FORTÍÐ einen erneut sehr gelungenen Versuch unternehmen, aufs Radar der Szene zu gelangen und zu ihren Vettern von HELHEIM und ENSLAVED aufzuschließen. Das Zeug dazu haben die Jungs in jedem Fall, wie die "World Serpent"-Duologie beweist, und gönnen sollte man es den Mannen von Herzen.

Die nächste Rotte ist so klassisch wie man nur sein kann, präsentieren sich hier doch drei seit den Siebzigern aktive Veteranenbands mit wirklich bemerkenswerten neuen Studioalben, die manch einer in dieser Klasse sicher nicht mehr erwartet hätte. Die NWoBHM-Speedster RAVEN haben sich den FEAR FACTORY-Drummer ins Boot geholt, und der hat offenbar der Band einen mächtigen Punch verpasst, denn das Trio klingt so wild und aggressiv wie lange nicht mehr. Ganz anders die Italiener von DARK QUARTERER, die weiterhin ihre ganz eigene, unnachahmliche Art der progressiven Epik zelebrieren, wenn sie die tragische Geschichte um Pompei doch ziemlich eindringlich und ergreifend interpretieren, und dann ist da noch AC/DC, das alte Schlachtross des Heavy Rocks, und hier scheint der Jungbrunnen darin gelegen zu haben, dass sich tatsächlich alle überlebenden Musiker der klassischen Phase nochmals gefunden haben, um gemeinsam ein schönes Album einzutüten, das in dieser Klasse die wenigsten noch erwartet hätten - "PWR/UP" rockt einfach so unnachahmlich geschmeidig, bodenständig und natürlich, dass man als langjähriger AC/DC-Fan kaum umhin kann, es lieb zu haben.

Der nächste Doppelschlag gebührt wiederum der grimmigen Zunft, liefern doch sowohl die amerikanischen Schwarzmetaller INQUISITION mit "Black Mass For A Mass Grave" ein so finsteres wie eingängiges Werk voller sinistrer Melodien und grollender Lyrik, und gelingt den britischen Death-Metal-Veteranen BENEDICTION nach der Reunion mit Kult-Frontmann Dave Ingram mit "Scriptures" ein Comeback nach Maß, das zweifelsfrei klar stellen sollte, wer auf der Insel in Sachen Death Metal die erste Geige spielen möchte, nachdem es um BOLT THROWER ja leider still geworden ist. Auch ganz ohne Exotenbonus kann sich Ungarns Metalgott József KALAPÁCS in meinem Jahresranking behaupten, denn mit "Világvégre" hat er uns ein Album kredenzt, das sich von und zu schreibt. Hungaro Metal in Vollendung, denn nicht nur präsentiert er kompositorisch seine besten Songs seit langer Zeit, sondern er fährt auch eine Produktion auf - heavy, voluminös, transparent und dynamisch - dass völlig klar ist, warum im Lande der Magyaren sicherlich niemand mehr den "Vergleich mit westlichen Standards" scheuen muss.

Zum Ende der Liste hin wird die Mischung recht kunterbunt, denn wie immer hatte auch 2020 weit mehr Alben als nur derer zwanzig, die eine Erwähnung verdient hätten. Besonders eindrucksvoll fand ich allerdings auf jeden Fall noch "Cerecloth", für Schwedens Black-Metal-Veteranen NAGLFAR nach langer Veröffentlichungspause ein Comeback nach Maß. Krude, unerwartet und dann auch nicht wie von vielen erwartet, ist das ISENGARD-Comeback "Vårjevndøgn", mit dem Altmeister Fenriz recht demonstrativ kundtut, dass er auch Ende der Achtziger schon eine ganz heftige Ader für doomigen, kauzigen, speedigen und epischen 70er- und 80er-Stahl hatte. Kaliforniens Groove-Könige Numero Uno, ARMORED SAINT, bleiben sich treu und beweisen einmal mehr, dass sie ein schlechtes Album gar nicht schreiben und aufnehmen können, und die Underground-Doom-Thrasher ADORNED GRAVES aus der Pfalz liefern mit ihrem zweiten Full-Length-Album "Being Towards A River" den Untergrund-Tipp des Jahres ab. Beendet wird der Jahresreigen von meinen alten Lieblingen ENSLAVED, die mit "Utgard" einmal mehr ein wunderbares Album abliefern. Dass es dennoch nicht weiter vorne ist, liegt wohl nur daran, dass mir die schwarzmetallischere Frühphase halt immer noch viel näher geht als die progressive Spätphase. Zwanzigster, und beileibe nicht Letzter, wird THE COMMITTEE mit "Utopian Deception", das erneut ein sehr beklemmendes, totalitär-militaristisches, trostloses, endzeitliches und dabei doch packendes und faszinierendes Werk geworden ist.

Dass eine Top-20-Liste immer recht knapp ist, um ein Jahr angemessen zu würdigen, ist natürlich klar, und so sei im Schnelldurchlauf gesagt, dass mich auch die neuen Alben von TULUS, EURYNOMOS, GLACIER, MÖRK GRYNING, HITTMAN, EXCELSIS, SAINT, HEXX, RAGE und etlichen mehr sehr überzeugen konnten, aber entweder etwas zu spät hier aufgeschlagen sind, um noch Eingang in die Liste zu finden, oder es einfach so nicht ganz geschafft haben. Das soll euch nicht daran hindern, den Bands eine Chance zu geben. Ebenso wie meinen Newcomern des Jahres, die überwiegend aus heimischen Gauen stammen: So die Death-Metal-Experten von GRIND, die eigenwilligen Traditionsmetaller von EISENHAUER, die Progressiv-Aufsteiger ASTRÅMERA und das Speed-Geschwader STEALTH. Außerdem verdienen ganz besondere Anerkennung die Prog-Epiker LÖR aus Pennsylvania mit ihrer grandiosen und zu Herzen gehenden EP "Edge Of Eternity", und die Black-Metal-Altmeister VENOM, die unter dem Titel "Sons Of Satan" endlich ihre frühesten Demos kompakt als Compilation auf die Welt los gelassen haben, was uns alten Legionären wahnsinnig Freude bereitet. Weitere tolle EPs kamen von STORMHUNTER, von TAAKE und WHOREDOM RIFE, sowie natürlich von CANDLEMASS.

Einiges mag ich vergessen oder übersehen haben, das bleibt nicht aus, doch ihr könnt mich ja darauf aufmerksam machen, wenn ihr tolle Tipps habt. Würde mich sehr freuen. An dieser Stelle käme jetzt in einem normalen Jahr noch der Live-Rückblick, doch wie gesagt, ich hab anno 2020 nur ein Konzert erlebt, und das war jenes von NECROPHOBIC über die Flimmerkiste. Das führt uns also nochmals zurück zum Krisenjahr:

Auch wenn keiner von uns gänzlich ungeschoren durch die Pandemie kommt, denkt ein bisschen an jene, die es vielleicht schlimmer erwischt hat als euch, und denkt insbesondere an die vielen Künstler, an die Bands und Musiker, die uns trotz der schweren Zeiten mit ihrer Arbeit und ihren Alben unterhalten und eine Freude gemacht haben. Wenn ihr es euch leisten könnt, dann kauft euch ihre Scheiben, einen Download oder ein Shirt; das hilft viel, in Zeiten, in denen man nicht weiß, wann man wieder mal auf eine Bühne steigen kann.

Mein besonderer Dank geht in diesem Jahr an euch, unsere Leser; an alle Kollegen hier und anderswo, speziell an Pia, Marcel und Tobi, die mir zu meiner alten Lieblingsband HELLOWEEN zu meinem allerersten Radio-Special (so nennen wir alten Menschen einen Podcast) verholfen haben, sowie an die Bands, Labels, Promoter und Veranstalter mit denen wir zusammenarbeiten durften, hier ganz besonders an Armin, Mario & AVIAN, Trond & TOMORROW'S OUTLOOK, Tom & IS LOVE ALIVE?, Perry & FALCON, Mark & JAG PANZER, Philipp & INFINITY'S CALL, Andy & MISSION IN BLACK für die tolle Kooperation im Rahmen unserer "Metalliance"-Reihe. Passt alle auf euch auf, bleibt gesund und drückt die Daumen, dass wir uns bald wieder draußen in freier Wildbahn begegnen können!

Die Top-20-Alben in der Übersicht. Mit einem Klick auf den Albumnamen gelangt ihr - soweit vorhanden - zur Rezension.

Rang Band Album
1. Cirith Ungol
Forever Black
2. Cirith Ungol
The Orange Album
3. Psychotic Waltz
The God-Shaped Void
4. Abigor Totschläger (A Saintslayer's Songbook)
5. Sodom Genesis XIX
6. Necrophobic Dawn Of The Damned
7. Elixir
Voyage Of The Eagle
8. Fortíð
World Serpent Duology
9. Raven Metal City
10. Dark Quarterer
Pompei
11. AC/DC
PWR/UP
12. Inquisition
Black Mass For A Mass Grave
13. Benediction
Scriptures
14. Kalapács
Világvégre
15. Naglfar
Cerecloth
16. Isengard
Vårjevndøgn
17. Armored Saint
Punching The Sky
18. Adorned Graves
Being Towards A River
19. Enslaved
Utgard
20. The Committee
Utopian Deception

Redakteur:
Rüdiger Stehle

Login

Neu registrieren